Die Orangen des Präsidenten
kam. Wegen seiner einzigartig schönen Stimme durfte er bereits als Kind in der Moschee das Rufgebet vortragen. Und er liebte den Imam Al-Hussein. Er hat uns immer leidenschaftlich von ihm erzählt.
Jedes Jahr am Tag von Ashura, dem zehnten Tag des Monats Muharram, an dem im Jahr 680 der jüngste Enkelsohn des Propheten, Imam Al-Hussein, seine Familie und seine 72 Freunde von 10000 Soldaten des Kalifen Yazid in Kerbala erbarmungslos niedergemetzelt worden waren, fuhr Ahmed nach Kerbala. Die Mehrheit der Schiiten pilgerte andiesem Tag zur Al-Hussein-Moschee, um dieses Massaker zu betrauern, das dort stattgefunden haben soll. Die Straßen in der Nähe der Moschee waren überfüllt mit Männern und Frauen in schwarzen Trauerkleidern. Frauen, die sich mit der flachen Hand auf Brust oder Gesicht schlugen und schluchzten. Männer, die sich mit ihren starken Fäusten ebenfalls auf die Brust hämmerten und schrien: »Wir opfern uns alle für dich, Al-Hussein!«
»Imam Al-Hussein war der Lieblingsheilige meiner Mutter«, erzählte mir Ahmed einmal. »Eigentlich nicht nur meiner Mutter, sondern aller, die ich kenne. Du magst ihn auch, oder?«
»Ja. Ich hatte immer den Eindruck, wir liebten ihn mehr als den Propheten Mohammed selbst. Ich liebe ihn auch, weil alle Mitglieder meiner Familie ihn lieben. Und weil er eine tragisch-traurige Geschichte hat.«
Lächelnd meinte er: »Irgendwann werde ich dich überzeugen, ein guter Schiit zu werden. Ich glaube, du bist noch nicht verloren.«
»Mal sehen!«
»Meine Mutter – Gott hab sie selig – weinte jedes Mal«, fuhr er fort, »wenn sie nach Kerbala kam. Sie beschwor mich, als ich noch Kind war, ich müsse Al-Hussein in alle Ewigkeit lieben und ihn beweinen. Jede Träne werde mir später einen Palast im Himmelreich sichern.«
An diesem Ashura-Feiertag kochte Ahmeds Mutter einen großen Topf Bohnensuppe und verteilte sie an die Leute, für Al-Hussein. Und für seinen Halbbruder Al-Abbas, dessen Moschee der von Al-Hussein gegenüberliegt, buk sie Al-Abbas-Brot, das sie zusammen mit der Bohnensuppe den Leuten servierte. Ein überaus leckeres Brot, aus Teig gemischt mit Fleisch und Zwiebeln. Imam Al-Abbas, den man auch »Abu-Ras-Al-Har – Der Hitzköpfige« nennt, weil er schnell wütend geworden sein soll, wenn jemand versuchte, einem Kind etwas anzutun, soll in der Schlacht von Kerbala einen dramatischen Tod erlitten haben:
»Als er gerade dabei war, aus dem Brunnen Wasser für die Frauen und Kinder zu schöpfen, wurde er von seinen Feinden überfallen, die ihm Hände und Beine mit ihren Dolchen und Schwertern abtrennten. Heldenhaft hievte er sich arm- und beinlos über den Rand des Brunnens und robbte mitsamt dem Wasser für seine Kinder durch den heißen Sand zurück bis zum Zelt seiner Sippe. Dort angekommen, hauchte er seine Seele aus.«
»Ich kenne die Geschichte sehr gut.«
»Ist zu euch auch ein Qare-Husseini gekommen?«
»Ja. Dafür hat meine Mutter gesorgt. Genau wie deine.«
Meine Mutter war es nämlich, die immer zehn Tage vor Ashura einen Mann nach Hause brachte, den man Qare-Husseini – Husseinvorleser – nannte, und der mit einer unendlich traurigen Stimme aus dem Buch
Die Schlacht von Kerbala
rezitierte. Er trug ein schwarzes Gewand und einen grünen Turban. Auch die Nachbarsfrauen versammelten sich bei uns, um die tragische Geschichte aus seinem Munde zu hören und vom ersten Tag bis zum zehnten, dem Todestag Al-Husseins, ununterbrochen zu weinen. In der vierzigsten Nacht pilgerten wir dann oft nach Kerbala. Jedes Mal waren Tausende von Besuchern vor uns da. Man fand fast keinen Platz für seine Füße. Und das alles, obwohl die Regierung und ihre Polizei durch lästige Straßenkontrollen und Reiseverbote eine Fahrt nach Kerbala zu verhindern suchten. Trotzdem machten sich viele auf den Weg. Auch meine Mutter wollte unbedingt dort sein, um das Ende der Geschichte zu hören und mitzuerleben, obwohl sie es selbstverständlich schon längst kannte. Dort in der Moschee wurde stets eindrucksvoll und stimmgewaltig vorgelesen, wie Al-Husseins Kopf von seinen Gegnern auf einen Speer gesteckt und triumphierend durch die Städte getragen wurde, und was das Schicksal für seine zurückgelassenen Familienangehörigen Schlimmes vorgesehen hatte. Und die Zuhörer weinten, bis keine Träne mehr in ihren Augen übrig war.
»Weißt du, dass ich ein Qare-Husseini bin? Und weißt du,wovon ich oft träume? Ich will einen heldenhaften Tod, wie den von Al-Hussein und
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