Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
sagte zu Betty, dass er, Thomas Holler, nur aufgrund eines tragischen Unglücks am Leben sei, dank des schlimmsten Unheils, das man sich vorstellen könne. Er war am Leben, weil sein kleiner Vorgänger, der fünfjährige Michi Holler, einziger Sohn und ersehntes Einzelkind der Familie Gerhard Holler, Aschberg/Rhön, bei einem fürchterlichen Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Bei einem Sonntagsausflug auf die benachbarte Wasserkuppe, die höchste Erhebung der Rhönregion, wo es bunte Eisbuden und Souvenirläden gab und Segelflieger und wo alle Welt hinauffuhr, um sich von den Mühen der Woche zu erholen, war der hellblaue VW-Variant der Hollers in dichtem Verkehr auf einen plötzlich abbremsenden Reisebus aufgefahren, und der kleine Michi Holler war, weil nicht angeschnallt, von der Rückbank ausdurch die Windschutzscheibe gesegelt und sofort tot gewesen. Sonst war nicht viel passiert, ein Blechschaden am Auto und die Scheibe eben, und leichte Schleudertraumata bei den Eltern, die aber ein, zwei Tage später schon vergessen gewesen waren.
Betty machte große Augen. Braun, viel heller aber als seine eigenen, dachte Tom, längliche Bernsteine, mit dunklen Einschlüssen.
»Ich bin sozusagen als Ersatz nachgeschoben worden«, erläuterte er in diese Augen hinein. »Weil man ein Kind gebraucht hat, so wie man ein Auto gebraucht hat und ein Haus.«
Betty bewegte ihren Mund, ohne zu sprechen, denn offensichtlich wusste sie gar nicht, was sie dazu sagen sollte.
»Es klingt jetzt viel schlimmer, als es ist«, sagte Tom. »Die Sachen werden immer schlimmer, wenn man sie ausspricht.«
»Es ist vor deiner Zeit passiert«, sagte sie.
»Ja«, sagte er. Trotzdem sei es immer anwesend. »Die Eltern«, sagte er, »geben sich gegenseitig die Schuld. Meine Mutter meinem Vater, weil er dem Bus hintendrauf gefahren ist, und mein Vater meiner Mutter, weil sie auf die Wasserkuppe wollte. Er hätte lieber in aller Ruhe Sportschau gesehen, nehme ich an.« Wahrscheinlich, fuhr er fort, hätten sie schon damals gestritten. Über Geld, den Ausflug, das Geschäft, denn Themen gibt es unzählige, wenn man streiten will. Tom sagte, er könne sich die Eltern gar nicht vorstellen ohne einen Streit, der ausgesprochen oder unausgesprochen zwischen ihnen in der Luft hänge. Also müssten sie, sagte er, auch im Auto gestritten haben, und in jenem Moment müsse der Unfall geschehen sein, der, wie er annahm, ihr Unglück, das immer vorhandene leere Lebensunglück mit einem Mal ausgefüllt habe.
»Und dann hatten sie wenigstens einen realen Grund, unglücklich zu sein«, sagte Betty detektivisch.
»So ungefähr«, sagte Tom. »Wahrscheinlich waren sie schon mit Michi unglücklich, und sie wären es auch mit ihm geblieben.«
»Unglücklich einfach so, weil sie am Leben sind.«
Tom sah Bettys helles Profil an, das an den Villen vorüberzog. So ähnlich hatte es Marc formuliert, dachte er. »Ich denke«, sagte er, »dass sie ohne ihr Unglück gar nicht existieren könnten. Es ist so etwas wie«, er überlegte, sah in den Himmel, wo ein kleiner schwarzer Vogel in ein Baumgeäst flog und die Zweige erzittern ließ, »es ist wie ein Korsett, das sie zusammenhält.«
Betty nickte und sah ebenfalls dem Vogel hinterher. Er schnellte in die Luft hinauf und glitt in hohem Bogen über eine Mauer in einen der Gärten hinein, während Tom den viereckigen Puppengarten seiner Eltern überdachte, dessen Bäume und Büsche immer gleich waren, weil seine Mutter es nicht leiden konnte, wenn die Zeit verging. Alle Blumen und Sträucher blieben, wie sie waren, weil die Heckenschere der Mutter keinen Fortschritt erduldete. Sogar die Unkräuter, die nicht da waren und täglich aus den Ritzen der Terrassenplatten herausgestochert wurden, und der Rasen, der zwischen den kargen Blumenbeeten lag wie aus grünem Kunststoff, blieben tagaus, tagein gleich, weil die Zeit, wenn sie schon da sein musste, gefälligst stehen bleiben sollte, genau wie die innere Zeit in ihnen, so sollte auch die äußere Zeit stehen bleiben, welche sich, geböte man nicht Einhalt mit Unkrautvernichtungsmittel und Heckenschere, umgehend in einem aufdringlichen Pflanzenwachstum und -welktum zu manifestieren drohte. In Toms Hals kitzelte es. Er musste lachen.
Warum er lache, fragte Betty.
Weil es dennoch witzig gewesen sei zu Hause, sagte er. Die Eltern seien im Dorf aufgrund des Kindstods so etwas wie Märtyrer gewesen. »Sie haben«, sagte er, »immer alles geschenkt bekommen. Kirschen im
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