Die Orks
Er hatte vielleicht ein Drittel des Weges zurückgelegt, als ihm aufging, dass ihm von der anderen Seite jemand entgegenkam. Er konnte die Gesichtszüge noch nicht erkennen, sah aber, dass sein Gegenüber mit entschlossenen Schritten und mühelosem Selbstvertrauen marschierte. Er selbst ging weiter, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Nach kurzer Zeit war sein Gegenüber nahe genug, um ihn richtig zu erkennen. Es handelte sich um die Frau, der er hier schon begegnet war. Wo hier auch sein mochte. Sie trug ihren Kopfschmuck aus leuchtend roten Kriegsfedern und ihr Schwert war so auf den Rücken geschnallt, dass der Griff über die linke Schulter ragte. Eine ihrer Hände lag leicht auf dem Halteseil an der Seite. Sie erkannten einander gleichzeitig, und sie lächelte. Er lächelte ebenfalls. Sie trafen sich in der Mitte.
»Unsere Wege kreuzen sich erneut«, sagte sie.
»Einen schönen Tag.« Er hatte dieselben starken Gefühle wie bei ihren bisherigen Begegnungen.
»Einen schönen Tag«, erwiderte er.
»Du bist wirklich ein Ork von flüchtiger Absonderlichkeit«, sagte sie zu ihm.
»Inwiefern?«
»Dein Kommen und Gehen ist in einen Schleier des Geheimnisses gehüllt.«
»Dasselbe könnte ich von dir sagen.«
»Ganz und gar nicht. Ich bin immer hier. Du kommst und gehst wie der Sprühnebel, den der Fluss gebiert. Wohin gehst du?«
»Nirgendwohin. Das heißt, ich… erforsche das Land, nehme ich an. Und du?«
»Ich ziehe umher, wie mein Leben es vorschreibt.«
»Und doch trägst du dein Schwert so, dass es nicht schnell gezogen werden kann.« Sie warf einen Blick auf seine Klinge, die sich in seiner Gürtelscheide befand.
»Und du nicht. Meine Art ist besser.«
»Deine Art war früher auch einmal Brauch in meinem Land, zumindest bei Reisen durch sichere Gegenden. Aber das liegt schon lange zurück.«
»Ich bedrohe niemanden und reise gefahrlos, wie ich es will. Ist das dort, woher du kommst, nicht so?«
»Nein.«
»Dann muss dein Land in der Tat grimmig sein. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich das sage.«
»Nein. Du sagst nur die Wahrheit.«
»Vielleicht solltest du hierher kommen und dein Lager aufschlagen.« Er war nicht sicher, ob das eine Einladung war.
»Das wäre schön«, erwiderte er.
»Ich wünschte, ich könnte es.«
»Was hindert dich daran?«
»Ich weiß nicht, wie ich dieses Land erreichen kann.« Sie lachte.
»Du bist immer für ein Rätsel gut. Wie kannst du das sagen, da du doch gerade hier bist?«
»Ich kann es mir ebenso wenig erklären wie du.« Er wandte sich von ihr ab und schaute hinunter auf das tosende Wasser.
»Ich verstehe mein Kommen hierher nicht mehr, als der Fluss versteht, wohin er fließt. Noch weniger, denn der Fluss ist schon immer ins Meer geflossen und daher zeitlos.« Die Frau rückte etwas näher.
»Wir sind auch zeitlos. Wir fließen mit dem Fluss des Lebens.« Sie griff in ihren Beutel und holte zwei kleine Kiesel heraus, glatt und rund.
»Die habe ich am Flussufer gesammelt.« Sie ließ sie aus der Hand gleiten, und sie fielen in die Tiefe.
»Jetzt sind sie wieder eins mit dem Fluss, wie du und ich eins mit dem Fluss der Zeit sind. Siehst du nicht, wie passend es ist, dass wir uns auf einer Brücke begegnen?«
»Ich weiß nicht, ob ich verstehe, was du meinst.«
»Nicht?«
»Ich meine, ich habe das Gefühl, dass Wahrheit in deinen Worten liegt, aber sie entzieht sich meinem Begriffsvermögen.«
»Dann streck dich danach, und du wirst sie begreifen.«
»Wie sollte ich das anfangen?«
»Indem du es nicht versuchst.«
»Jetzt sprichst du in Rätseln.«
»Die Wahrheit ist simpel; wir sind es, die es vorziehen, sie als Rätsel zu betrachten. Das Begreifen wird zu dir kommen.«
»Wann?«
»Es beginnt mit dem Stellen dieser Frage. Hab Geduld, Fremder.« Sie lächelte.
»Ich nenne dich immer noch Fremder. Ich kenne deinen Namen noch nicht.«
»Und ich auch nicht deinen.«
»Und wie wirst du genannt?«
»Stryke.«
»Stryke. Das ist ein starker Name. Er passt gut zu dir. Ja … Stryke«, wiederholte sie, als lasse sie ihn auf der Zunge zergehen.
»Stryke.«
»Stryke. Stryke! Stryke!« Er wurde geschüttelt.
»Hm? Äh… Was… wie heißt du?«
»Ich bin's, Coilla. Was hast du denn gedacht, wer es ist? Nun wach schon auf, Stryke!« Er blinzelte und betrachtete seine Umgebung. Dann dämmerte es ihm. Der Tag brach an. Sie waren in der Krätze.
»Du siehst seltsam aus, Stryke. Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja… ja. Nur ein…
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