Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
weg.
Auf dem Rückweg fuhr er etwas schneller als erlaubt, aber das war nicht so schlimm. Das machte jeder so.
Er erreichte die Einfahrt, bog um die Ecke. Und da hatte er das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Wieder stand jemand auf dem Hof. Genau wie am Abend zuvor Sergente Massimo. Allerdings im hellen Tageslicht. Und es war kein Polizist.
Es war eine junge Frau.
51
Mara schüttelte ihre Müdigkeit ab, folgte den Menschen aus dem Zug hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Sie befand sich am Rande der Altstadt, nur ein paar Minuten entfernt von der berühmten Kathedrale Santa Maria del Fiore und den Uffizien, aber sie war ja nicht als Touristin hier. Die Schönheiten der toskanischen Metropole mussten also warten.
In einem Buchladen kaufte sie für drei Euro eine Karte der Umgebung. Sie verglich sie mit den Ausdrucken aus Jakobs Computer.
Sie verbrachte etwas Zeit damit, eine Verbindung zu suchen, und nach einer guten Stunde saß sie zusammen mit vielen plappernden Menschen, die von der Arbeit kamen, in einem grünweißen Bus, der die Strecke Richtung Bologna fuhr.
In der Vorstadt war die Straße noch beängstigend eng. Was die Fahrt aber noch aufregender machte, waren geradezu halsbrecherische Rollerfahrer, die den Bus umschwärmten. Nach und nach wurden hinter den Natursteinmauern, die die Straße begrenzten, die grünen Hügel sichtbar, die man von vielen Fotos kannte. Mara sah sogar Gruppen der berühmten toskanischen Zypressen, die wie erhobene Zeigefinger in den Himmel stachen.
Immer wieder prüfte sie Jakobs Ausdrucke. Es war nicht so leicht, sie mit einer realen Karte in Verbindung zu bringen. Die Maßstäbe stimmten nicht, außerdem gab es auf der Zeichnung aus Wesselys Unterlagen keine Eintragungen, die die richtigen Relationen hergestellt hätten. Es waren nur ein paar Orte eingetragen. Straßen, Berge, Flüsse oder andere topografische Merkmale fehlten.
Trotzdem trafen sich die Linien der Diagonalen an einem Ort, den auch die konzentrischen Kreise umgaben: San Martino.
Sie las Ausschilderungen: Pratolino, Vaglia – Orte an der Landstraße. Immer wieder bemerkte sie Abbruchhäuser und Gebäude, an denen gebaut oder renoviert wurde. Einmal lag ein ganzer Haufen Steine an der Straße. Mara hielt ihn für Geröll, aber es waren die zerbrochenen Mauern eines Wohnhauses. Und langsam dämmerte ihr, dass es vor Kurzem in Italien ein Erdbeben gegeben hatte. Sie hatte davon in den Nachrichten gehört oder im Internet gelesen. Wie lange war das her? Es war noch vor dem Konzert in Berlin, noch vor Johns Tod.
Eine Erinnerung keimte in Mara auf. Irgendwann, als Mara zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte ihr sogenannter Vater die Idee verfolgt, in die Toskana in Urlaub zu fahren. Wie es seine Art war, hatte er sich einen Haufen Bücher gekauft, die er dann Abend für Abend durchblätterte – auf seine typische Art, bei der Mara gar nicht glauben konnte, dass er wirklich las . Er wirkte nie in ein Buch versunken, sondern er verhielt sich, als würde er die Seiten nur betrachten – auch wenn es reine Textseiten waren, ohne Bilder. Und dazu machte er ein Gesicht, als würde er bewundern, wie der Verleger, wie der Drucker es hinbekam, all diese Buchstaben so akkurat nacheinander anzuordnen. Mara wusste natürlich, dass er die Wörter entzifferte, dass er das aufnahm, was da stand, aber dieser völlige Mangel an Hingabe, diese Distanziertheit war ihr zutiefst zuwider. Wenn Mara ein Buch verschlang, vergaß sie alles um sich herum, sie tauchte ganz und gar in die Welt ein, die die Texte vermitteln wollten. Sie konnte sich vollkommen auf etwas einlassen und ging bewusst die Gefahr ein, darin zu versinken. Was bedeutete, dass sie Termine verpasste, zu spät in die Schule oder nachmittags zu spät nach Hause kam. Ihre eigene Welt nahm sie gefangen. Und das Geigespielen war auch Teil dieser Welt.
Und weil ihr sogenannter Vater das nicht konnte und auch nicht verstand, blieben sie sich immer fremd.
Kein Wunder.
Mara drängte die Erinnerungen beiseite.
Mach nicht den Fehler und lass dich nun von deiner Vergangenheit gefangen nehmen, sagte sie sich. Du bist im Hier und Jetzt, und du hast eine Aufgabe.
Und plötzlich, als hätte allein der Gedanke an ihn seine Person in ihrem Kopf materialisiert, hörte sie die Stimme ihres sogenannten Vaters.
»Ja, du hast eine Aufgabe«, sagte er, und Mara dachte schon einen Moment, er habe sich nun tatsächlich auf ihre Seite geschlagen. »Aber du hast einen Freund im
Weitere Kostenlose Bücher