Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
lärmenden Geräuschwolke aus dem Saal entgegen. Links und rechts säumten Mitglieder des Technikteams den Weg. Mara, tief zurückgezogen in ihrem Körper und die Welt wie aus einem U-Boot betrachtend, sah, wie sich verschiedene Emotionen auf ihren Gesichtern spiegelten. Trauer, Erstaunen, Bitterkeit, aber auch Mitleid. Sie kam auch an den beiden Polizisten vorbei, die ihr aber nur kurz zunickten.
Nun konnte sie schon das Orchester sehen. Die Musikerinnen und Musiker saßen mit dem Rücken zu ihr. Jemand hatte Marc ein Zeichen gegeben, und als Mara den letzten Durchgang zur Bühne erreicht hatte, begannen sie zu spielen. Es war ein kurzes Vorspiel, das die zweite Konzerthälfte eröffnete – eingeleitet von massiven Fanfaren der Blechbläser, bei denen Mara plötzlich die Assoziation hatte, es seien die Posaunen zum Jüngsten Gericht. Kurz darauf fiel der monumentale Klang in sich zusammen, und die Streicher legten einen weichen Klangteppich. Sechzehn Takte, und Mara hatte ihren Einsatz. Bei den breiten Akkorden, die jetzt in die Tiefe der Bratschen und Celli hinabsanken, hatte sie immer das Gefühl, sie markierten den Weg für sie in das Stück hinein, wie eine klingende Brücke, auf deren Pfeilern sie ihre Melodien ausbreitete.
Sie ging ein paar Schritte und wusste, dass sie nun ganz und gar zu erkennen war – nicht nur als Silhouette. Im Saal brandete Jubel auf. Mara konnte die Menschen da unten nur erahnen, denn die Scheinwerfer blendeten sie. So hatte sie trotz des Widerhalls in dem großen runden Saal das Gefühl, mit sich und ihrer Musik alleine zu sein.
»Nothing else matters.« Der Titel war durch die Version der Gruppe Metallica berühmt geworden. Ein langsames Stück, das sich immer weiter steigerte, und mit jeder Tonfolge schien Mara etwas Schwerkraft zu verlieren. Nach einer Solopassage setzten die Streicher wieder ein, und gleich kam der Übergang zu einem neuen Lied – einem eigenen Titel, den sie »Horizons of Harmony« genannt hatte.
Die Melodie dazu war ihr tatsächlich im Traum eingefallen – kurz nachdem die Sache mit John Gritti ihren Lauf genommen hatte und die Probleme mit Björn endlich ausgestanden waren …
Wie eine düstere Drohung legte sich plötzlich Stille über den Saal. Mara spürte, wie in ihrem Inneren etwas Heißes aufzuckte. Sie suchte Marcs Blick.
Sie hatte einen Fehler gemacht. Eigentlich hätte jetzt die Überleitung zu »Horizons of Harmony« kommen müssen, aber sie war ausgestiegen. Und mit ihr auch das Orchester.
Der Gedanke an Johns Tod fuhr als blitzartiger Schmerz durch sie hindurch, und plötzlich kam ihr eine Idee.
Sie wusste nicht, ob es funktionieren würde, aber sie zog die Violine an sich heran. An einem der F-Löcher saß das Mikrofon, das ihr Spiel zu dem Verstärker schickte. Sie räusperte sich, und man hörte es im ganzen Saal. Dann sprach sie in die gespannte Stille hinein: »Das nächste Stück ist für John Gritti.«
Anschließend gab sie dem Dirigenten ein Zeichen. Das Orchester begann am Anfang von »Horizons«, sie konnte gut einsteigen und spielte und spielte – so wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
6
Er tauchte in die Schwärze ein und bemühte sich, sie zu lichten, sie wieder in den schönen Ort am Meer zu verwandeln, den er beim letzten Mal besucht hatte. Vergeblich.
»Wie heißt du?«, ließ sich die tiefe Männerstimme vernehmen.
»Warum fragen Sie das? Ich habe es Ihnen beim letzten Mal schon gesagt.«
Ganz kurz schien sich die Finsternis zu lichten, doch der Ärger über die überflüssige Frage schien den winzigen, zerbrechlichen Lichtfleck verscheucht zu haben.
»Antworte!«
»Ich heiße Zenodotos, aber man nennt mich Zeno.«
»Warum?«
»Auch das haben Sie mich schon gefragt.«
Verdammt. Er durfte nicht aufsässig sein. Er musste gehorchen. Es war klar, dass seine abwehrende Haltung daran schuld war, dass ihm etwas den Zutritt verwehrte. Seine Seele war nicht bereit.
»Ich möchte es noch einmal hören …«
Zeno versuchte, sich zu erinnern. Vielleicht war es wichtig, genau dieselben Worte zu wählen wie beim letzten Gespräch. Würde ihm das gelingen?
»Wir sprechen viel miteinander – dort, wo ich lebe. So hat es sich ergeben, dass man die Namen abkürzt.«
Sein Gegenüber schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte der Mann: »Du lügst.«
Die Aussage stand wie eine harte Drohung im Raum. Zeno wusste, was das bedeutete.
»Warum sollte ich?«, fragte er.
»Dafür gibt es viele Gründe. Aber darf ich dich daran
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