Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
erinnern, was geschieht, wenn wir ein Mitglied der Lüge überführen?«
»Ich lüge nicht, und ich bin mir keiner Schuld bewusst.«
»Das wird sich zeigen.«
»Prüfen Sie mich, wenn Sie wollen. Sie werden alles bestätigt finden.«
»Wir haben es getan. Und wir sind anderer Ansicht.«
»Aber …«
»Schweig. Du solltest jetzt nichts mehr sagen. Nur das, wonach du gefragt wirst. Das ist deine einzige Chance, wie du weißt. Wer einmal die Grenze überschritten hat und versagt, wird nie wieder eine Chance haben. So sind die Regeln.«
Ja, so waren die Regeln. Zeno wusste es. Aber er war sich so sicher gewesen. Aber war das überhaupt möglich? Sich ganz sicher zu sein? War nicht immer ein gutes Stück Glaube im Spiel? Und wer glaubte, konnte doch auch irren, oder nicht? Außer er starb in einem bestimmten Glauben, und wenn die Zeit gekommen wäre, den Irrtum zu erkennen, war er tot. Für Zeno würde es härter werden. Er würde noch im Leben zu spüren bekommen, dass er sich geirrt hatte.
»Was möchten Sie wissen?«, fragte er.
»Ich bin derjenige, der Fragen stellt. Mach dich bereit.«
»Ich bin bereit.«
»Gut … Wo bist du?«
Zeno versuchte erneut, sich das Bild des Orts zurückzuholen, den er beim letzten Mal besucht hatte. Ohne Erfolg.
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
»So, so, du weißt es nicht …«
Je mehr er versuchte, das Bild in seinem Kopf zum Leben zu erwecken, desto vernagelter schien alles zu sein. Dabei war es doch ganz einfach! Der Raum mit den Schriftrollen. Das Fenster zum Meer. Die Schiffe, die unten in der Nähe der Bucht ihre Bahn zum Hafen zogen. Möwengeschrei. Die Rufe und das Gepolter, das von den Landekais herüberkam. Der Geruch nach Seewasser, nach Meereswind, nach Fisch …
Die Dunkelheit blieb.
»Du hast deine Chance gehabt«, sagte der Mann.
»Aber vielleicht funktioniert es nicht immer«, sagte Zeno. »Vielleicht muss man in der richtigen Stimmung sein …«
»Du bist nicht Zeno.«
»Was soll das heißen?«
»Was du sagst, passt nicht zu dem, was wir sicher wissen. Du hast es dir nur angelesen.«
»Aber wenn dem so ist … wenn ich es nicht bin … irgendjemand bin ich … und ich habe mich eben nur geirrt.«
»Wir können niemanden gebrauchen, der sich durch Angelesenes ablenken lässt.«
Was der Mann sagte, klang rigoros. Zeno wurde immer mehr klar, dass er tatsächlich verloren hatte. Wenn das so weiterging, würde er den Raum nicht lebend verlassen.
»Erklären Sie es mir. Was habe ich falsch gemacht?«
»Erklären? Da hätte ich viel zu tun. Die Alten Seelen erklären nicht. Damit haben wir uns viel zu lange aufgehalten. Wer versagt, ist eine Gefahr für uns.«
»Aber ich bin Ihnen doch immer von Nutzen gewesen. Und warum Gefahr? Ich weiß doch viel zu wenig über Sie, um tatsächlich eine Gefahr zu sein.«
»Deine Verdienste sind unbestritten. Aber als du über die Schwelle gegangen bist, als du für dich in Anspruch genommen hast, selbst eine Alte Seele zu sein, hast du dich in Gefahr begeben. Und das wusstest du.«
Zeno schwieg betroffen. Eigentlich hätte er in Panik verfallen müssen. Sein Leben war hier zu Ende. Aber das war so surreal, dass er es nicht glauben konnte. Und das war wohl der Grund dafür, dass er seltsam gelassen blieb.
Doch dann flammte Licht auf. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte er, es doch noch geschafft zu haben. Sich dort zu befinden, dort, wo es große Geheimnisse zu ergründen gab. Die größten Geheimnisse der Menschheit. An einem Ort, wo noch keine Alte Seele jemals hingekommen war. Er wäre der Erste gewesen. Und er hätte sich nicht nur Verdienste errungen, sondern noch etwas viel Wertvolleres: Erkenntnis.
Doch er war im Hier und Jetzt. Er saß in einem großen holzgetäfelten Zimmer dem Mann gegenüber. Ein blanker Schreibtisch von rötlichem Holz und einer fantastischen Maserung, die an Flammen erinnerte, trennte ihn von dem Mann, der in einem Sessel verharrte und hinter dem Bücherregale die Wand bedeckten. Bei seinem ersten Besuch hatte Zeno dieses Ambiente beeindruckt. Jetzt hatte er keinen Blick dafür – zumal der Mann eine Pistole auf ihn gerichtet hielt.
»Sie wollen mich wirklich erschießen?«, fragte Zeno – immer noch ungläubig, aber in dem Moment, in dem er die Worte aussprach, wurde das, was dahinterstand, unangenehm real. Die letzten Sekunden seines Lebens verrannen.
»Wenn du wenigstens einen Blick in die Schriftrolle hättest werfen können«, sagte der Mann. »Einen einzigen Blick nur.
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