Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
wieder böse stürzen musste. Sie riss die rechte Hand nach oben, machte den Handteller so groß, wie sie nur konnte.
Da war der Widerstand!
Fein, aber fest. Dünn, aber solide.
Es war ein Draht, kein Zweifel. Oder ein Kabel. Aber es fühlte sich blank metallisch an.
Mara schnappte zu, und als sie wieder nach unten zu fallen drohte, bremste der Draht ihren Fall, doch er stoppte ihn nicht. Er gab unter Maras Gewicht nach. Neben ihr oder über ihr löste sich etwas, das kleine Gesteinlawinen losschickte. Sie kam auf den Füßen auf, ging in die Hocke und richtete sich auf. Sie hatte immer noch das dünne Metall in der Hand. Es war jetzt ziemlich lose.
Im Schein der zitternden Flamme sah sie, dass der Draht weit oben verschwand. Sie zog prüfend daran, und wie ein Stromkabel, das man aufrollt, kam ihr immer mehr entgegen. Am Ende der metallenen Leine hing etwas Längliches. Mara zog es ganz heran und betrachtete es im Schein der Flamme. Es sah aus wie zusammengerolltes, festes Papier oder Pappe. Eine Aufschrift in Blockbuchstaben war zu erkennen, daneben ein Symbol. Ein runder Kreis, von dem zur einen Seite strahlenförmige Striche abgingen …
Dynamit!
Mara ließ die Stange fallen.
Jemand wollte die Höhle sprengen!
Sie musste hier raus.
Aber nach oben konnte sie nicht. Der Draht war eine geringe Hoffnung gewesen, eine Hilfe zu finden, um vielleicht nach oben klettern zu können. Aber diese Idee musste sie begraben.
Blieb der zweite Weg. An der Leiche des jungen Mannes vorbei. Durch die Tür mit dem Lyrarelief darüber. Irgendwo musste sie doch hinführen.
Mara hatte das Gefühl, dass dieser Weg ohnehin der bessere für sie war.
Du bist hierhergekommen, um alles über die Orphiker herauszufinden. Nun musst du diesen Weg auch zu Ende gehen. Genau wie Orpheus selbst.
Du musst in den Hades hinunter.
Und du musst zurückkehren – trauriger, aber auch innerlich reicher.
Es gelang ihr, den Weg an dem toten jungen Mann vorbei zur Tür zurückzulegen, ohne die Flamme anzuzünden. Sie musste lächeln. Du kennst dich schon ziemlich gut hier unten aus, Mara. Als ob es dein Zuhause wäre.
Sie machte Licht, als der dunkle Durchgang noch etwa zwei Meter von ihr entfernt war. Er war schwarz.
Mara ging los. Als sie die Tür passierte, passte sie genau auf, wohin sie ging. Es war möglich, dass weitere verborgene Schächte nach unten führten, weitere Löcher, in die man stürzen konnte.
Aber sie betrat feste, gestampfte Erde. Das Ende des Raums, den sie betreten hatte, war nicht zu erkennen. Aber die Wände, die sich links und rechts in der Dunkelheit verloren, wirkten gerade. Wie Menschenwerk. Mara strich über die Oberfläche. Sie war gar nicht mehr in einer Höhle, sondern in einem Keller. In einem sehr großen Keller.
Etwas Dunkles war weiter hinten erkennbar. Es sah aus wie eine große Kiste. Mara löschte das Licht, weil sie wieder Gefahr lief, sich zu verbrennen, tastete sich im Dunkeln an der Mauer entlang und immer wieder mit einem Fuß nach vorn, bis er gegen den Behälter stieß.
Licht an.
Tatsächlich. Eine sehr große Kiste war das. Sogar groß genug, dass ein Mensch hineingepasst hätte. Mit Eisenbeschlägen. Sie bückte sich, um sie zu öffnen.
Keine Angst, sagte sie sich. Es wird keine Leiche darin sein.
Sie musste lange an dem Deckel rütteln. Als sie ihn aufbekam, rutschte eine Schicht Staub herab. Im Inneren lagen aufgeschichtete längliche Gebilde. Holzstäbe, die auf der einen Seite mit etwas Dickem, Schwarzem bestrichen waren.
Fackeln!
Sie nahm eine davon heraus.
Wie konnte man sie anzünden? Falls sie überhaupt noch funktionierten.
Sie versuchte es mit dem Feuerzeug, aber es ging nicht. Sie brauchte etwas Brennbares. Papier. Oder Pappe.
Sie legte Feuerzeug und Fackel beiseite und wühlte in ihren Taschen. Sie fand zwei, drei Papiertaschentücher, ein paar Zettel, Kassenbelege. Nur sehr kleine Papierfetzen.
Es muss gleich beim ersten Mal klappen!
Oder sollte sie erst den Raum absuchen? Vielleicht gab es ja Papier hier in der Nähe.
Andererseits fragte sie sich, ob Papier in dieser Höhle so lange existieren konnte. Sicher war sehr lange niemand mehr hier gewesen.
Aber es musste ja nicht unbedingt Papier sein.
Sicher ging auch Stoff.
Mara begann, sich auszuziehen. Die Jacke, das Sweatshirt. Was sollte sie nehmen? Worauf konnte sie am leichtesten verzichten?
Du kannst auf alles verzichten. Denn du wirst hier unten ohnehin nicht lange überleben, wenn du keinen Ausgang findest.
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