Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
er es verloren hatte. Aber das war das geringste Problem.
Dass das alles so schnell gehen musste!
Eigentlich hatte er vorgehabt, eine günstigere Gelegenheit abzuwarten. Zum Beispiel ein neues Erdbeben. Ein Nachbeben, das vielleicht demnächst zu erwarten war. Die Erde bebte, und ein paar Stunden später fiel irgendwo abseits der Straße zwischen San Martino und Florenz der Berg in sich zusammen. Das konnte passieren …
Nun musste es eben jetzt geschehen.
Der Padre war nun nah an dem Draht. Er nahm das Ende und zog es ein Stück weiter zum Eingang des Schachts hin. Er musste sowieso noch einmal zum Auto zurück und Werkzeug holen.
Das Kabel war lose.
Was war da passiert?
Er hatte doch alles richtig verlegt – ganz nach den Vorgaben im Internet. Und nun hing hier der Draht einfach so herum?
Jemand musste sein Werk zerstört haben.
Ein Teil der Leitung hing in den Schacht hinunter. Mara musste ihn gefunden und daran gezogen haben.
Verdammter Mist!
Der Priester zog alles heraus, mitsamt den Dynamitstangen. Einige waren noch richtig verlegt – oberhalb der Öffnung. Aber das reichte nicht.
Der Padre lagerte das Material auf dem schmalen Vorsprung und machte sich an den Abstieg.
Er musste Werkzeug holen.
Und noch einmal von vorn anfangen.
57
Mara stand vor ihrer Violine.
Tamara ragte aufrecht empor. Sie war riesig. Mindestens vier Meter hoch. Das Griffbrett mit dem Wirbelkasten stolz in die Höhe gereckt, schien sie durch die beiden F-Löcher auf Mara zu blicken wie eine strenge Göttin.
Und sie war ja auch eine Göttin.
Die Göttin der Orphiker.
Fast alle Oberhäupter der Sekte waren Geiger gewesen. Die Geige war das Instrument, das in der Neuzeit die antike Lyra abgelöst hatte. Und eine Lyra war es, die über der Schwarzen Violine schwebte. Ihre silbrige Farbe ließ sie wie eine Krone erscheinen.
Mara bekam weiche Knie, als sie sich dem Bild näherte, das die ganze Wand bedeckte. Der Schöpfer des Gemäldes hatte die Geige in eine Naturlandschaft eingebettet. Links und rechts konnte man so etwas wie Wald erkennen. Davor erstreckte sich eine Wiese. Mara ging mit der Fackel näher heran. Jetzt kam es ihr so vor, als würde sich ihr die Violine entgegenrecken. Ein seltsamer optischer Effekt, der wahrscheinlich durch das Flackern der Flamme entstand.
Auf der Wiese waren Personen zu erkennen. Sie wirkten winzig neben der riesenhaften Geige, aber die Gesichter waren sehr gut herausgearbeitet. Die Menschen trugen Kleidung unterschiedlicher Epochen. Einige hatten die typischen Barockperücken auf dem Kopf, ein anderer stand in schwarzem Frack da, der ihm um die schmale Gestalt zu schlottern schien. Seine Haare waren wirr und schulterlang. Sein Gesicht besaß eine hervorstechende Hakennase.
Das musste Paganini sein.
Der Padre hatte recht gehabt. Auch er gehörte zu den Orphikern. Wahrscheinlich war jeder einzelne von ihnen auf diesem Gemälde verewigt. Oder jedes Oberhaupt. Jede Orpheus-Reinkarnation.
Die Wiese war weitläufig und bot noch viel Platz. Die Sekte oder wie auch immer man die Vereinigung nennen wollte, hatte sicher ein längeres Bestehen geplant.
Als Mara noch näher an das Bild herangekommen war, wurde ihr klar, wie der optische Eindruck entstand, die Geige würde auf sie zukommen. Die Wand war nicht gerade, sondern konvex. Es war eine kreisförmige Wölbung, die sich Mara entgegenstreckte.
Wozu war das gut?
Sollte das Bild den Betrachter einschüchtern? Die Geige dreidimensional erscheinen lassen?
Wahrscheinlich. Schließlich war sie sehr naturgetreu wiedergegeben. Sogar der Glanz des Lacks auf dem schwarzen Holz war in die Malerei eingegangen, außerdem die Wölbung unter dem Steg.
Mara wurde von großer Trauer erfasst. Die Angst, nicht mehr aus dieser Höhle herauszukommen, hatte sie überwunden. Aber jetzt kam der Schmerz über Tamaras Verlust wieder hoch. Das Bild des fallenden Geigenkastens, der unaufhaltsam von der Brücke in die Donau stürzte.
Sie hatte diese Geige besessen. Sie hatte sie in der Hand gehalten. Sie hatte auf ihr gespielt. Sie war die Nachfolgerin von großen Musikern der Vergangenheit gewesen. Ob sie es jemals dazu gebracht hätte, die Orphiker anzuführen oder ihnen auch nur anzugehören, wusste sie nicht. Aber sie hatte die Geige gehabt. Sie hatte ihre Finger auf demselben Griffbrett bewegt wie Paganini persönlich. Wie Corelli und wie sie alle hießen.
Nun war die Tradition abgeschnitten wie ein Faden.
Als würde die Violine auf dem Bild diese
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