Die Orpheus-Prophezeiung: Thriller (German Edition)
wieder, und es war vorbei. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie kannte seine Gedanken. Natürlich. Sie war ja nicht die Unschuld vom Lande. Sie wusste, was sie wollte. Sie wusste, wie sie wirkte. Sie wusste … irgendwie alles.
»Ihre Musik«, sagte er, obwohl er genau diese Antwort eigentlich geheim halten wollte. Er hatte sich ausgemalt, Deborah irgendwas von einem sehr dummen Zufall vorzulügen, der Mara zu Hilfe gekommen war. Eine Polizeistreife im Wald. Oder ein Förster, der plötzlich auftauchte. Irgendetwas. Und nun hatte die Frau, nur indem sie ihm ein bisschen ihre Beine zeigte, es geschafft, ihn dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen.
»Musik?«, fragte Deborah.
»Als sie gespielt hat … Ich meine, hier …«, begann er, wusste aber nicht weiter.
»Das hat etwas ausgelöst? In Ihrem Kopf? In Ihren Erinnerungen?«
Sie kam ihm zu Hilfe – gut. Aber woher wusste sie das? Konnte sie etwa Gedanken lesen? Unmöglich! Also, folgerte er messerscharf, musste sie die Wirkung kennen, die Maras Musik auslöste. Es hatte etwas Besonderes auf sich mit dieser Musik. Also war genau dies auch das, was Mara so wertvoll machte. Sie war in der Lage, so zu spielen, dass es die Menschen verzauberte, beeinflusste.
Gut, das hatte er verstanden. Doch nun stellte sich eine neue Frage. Warum sollte er eine Frau töten, die so etwas konnte?
Damit sie mit ihrem Können, das zweifellos viel Geld wert war, nicht in die Hände der Konkurrenz fiel? Das war schwer vorstellbar. Das Musikgeschäft war sicher hart und hatte wenig mit der Romantik zu tun, die sich die meisten Leute darunter vorstellten.
»Wenn es ihr aber gelungen ist, dann habe ich recht«, sagte Deborah und stand auf.
»Womit haben Sie recht?«
Sie war zur Tür gegangen und drehte sich um. »Sie muss die Person sein, für die ich sie halte. Sie hat ein Schicksal, dem sie nicht entfliehen kann.«
Die Theorie, dass es hier um einen besonders heftig ausgetragenen Streit im Musikgeschäft ging, fiel wieder in sich zusammen. Was Deborah jetzt gesagt hatte, klang fast wie das Gerede einer Sekte. Esoterischer Kram.
»Was bedeutet das für uns?«, fragte Quint.
»Finden Sie sie wieder. Spüren Sie sie auf.«
»Besteht der Auftrag noch, sie zu beseitigen?«
Deborah hob die Augenbrauen an. »Machen Sie Witze? Sie hat ihre Prüfung bestanden. Erst jetzt weiß ich wirklich, wie wertvoll sie ist. Von jetzt an müssen wir ihr folgen. Und ihr das wegnehmen, was sie der Menschheit geben kann. Damit wir es haben.«
TEIL 2:
Die Prophezeiung
28
Wo bist Du? , tippte Orpheus in die Chatzeile.
In der Nähe von Köln. In einem Internetcafé.
Ich werde Dir eine Frage stellen. Welches war das erste Stück, das Du auf der Geige spielen konntest?
Mara schüttelte den Kopf. Was sollte das jetzt?
Wieso wollen Sie das wissen?
Ich muss kontrollieren, ob ich wirklich mit Mara chatte.
Sie verstand. Aber die Frage überforderte sie. Sosehr sie auch nachdachte, sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie musste ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein, als sie zum ersten Mal Vanessa-Mae im Fernsehen gesehen hatte. Mitte der Neunzigerjahre. Sie war zu ihrem Musiklehrer gegangen und hatte gefragt, ob sie auch Geige lernen könnte. Man hatte ihr ein Leihinstrument von der Schule gegeben, es gab ein paar Probeunterrichtsstunden, und schnell stellte sich heraus, dass Mara eine intuitive Begabung für das Instrument besaß. Es dauerte nur eine Woche, bis sie ein kleines Stück vorzutragen vermochte. Während andere monatelang damit zu tun hatten, einen vernünftigen Ton aus der Geige herauszubringen.
Aber wie hieß das Stück?
Und woher wollte Orpheus überhaupt wissen, ob sie die richtige Antwort gab?
War er ihr ganzes Leben lang an ihrer Seite gewesen?
War er vielleicht ihr Musiklehrer von damals? Er hieß Eichhorn, stand damals schon kurz vor der Pensionierung und musste also jetzt auf die achtzig zugehen.
Sind Sie Herr Eichhorn?
Sie hatte es schnell hingetippt, ohne nachzudenken.
Dein Musiklehrer? Nein, der bin ich nicht. Er ist übrigens vor zwei Jahren gestorben.
Ich kann mich an das Musikstück nicht erinnern. Es war ein Volkslied, glaube ich. Aber ich weiß nicht mehr, wie es hieß.
Durchgefallen, dachte sie. Jetzt denkt er, ich sei nicht Mara, und bricht den Kontakt ab. Der seidene Faden, der mich mit meiner Vergangenheit verbindet, reißt.
Richtige Antwort.
Wie bitte?
Du kannst es nicht mehr wissen. Das Stück hatte keinen Namen. Es war eine der ersten Etüden in
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