Die Päpstin
nicht daheim
bei ihrem Mann, in Sicherheit?
Benommen hob Gisla den Kopf. »Vater!« schrie sie. »Vaaateeer!« Ihr Schrei hallte in jeder Faser seines Seins wider.
Gerold spornte die braune Stute an, doch sie wieherte schrill, tänzelte zurück und weigerte sich, noch weiter in das tiefere,
dunklere Wasser vorzudringen. Gerold schlug ihr die flache Seite des Schwertes auf die Hinterhand, um sie zum Gehorsam zu
zwingen, erreichte damit aber nur, daß das Tier in Panik geriet; es bäumte sich wild auf, und die Hufe wirbelten durch die
Luft. Ein weniger geübter Reiter wäre abgeworfen worden, doch Gerold hielt sich entschlossen auf dem Pferderücken und kämpfte
darum, die Stute seinem Willen zu unterwerfen.
»Herr! Herr!« Gerolds Männer umringten ihn, packten das Geschirr des Pferdes und zerrten es mitsamt seinem Reiter zurück.
»Es ist hoffnungslos, Herr.« Grifo, der militärische Anführer von Gerolds Trupp, sprach die schreckliche Wahrheit mit fester
Stimme aus. »Wir können nichts mehr für sie tun.«
Die roten Segel des Drachenschiffes hatten zu flattern aufgehört; nun blähten sie sich voll im Wind, während das Schiff rasch
von der Küste fortglitt. Es gab keine Möglichkeit, die Normannen zu verfolgen; nirgends gab es Boote oder gar Schiffe. Außerdem
hätten Gerold und seine Männer ohnehin nicht gewußt, wie man Segel setzt und navigiert. Die Kunst des Schiffbaus war selbst
hier, im hohen Norden des Frankenreiches, längst in Vergessenheit geraten.
Wie betäubt ließ Gerold die Stute von Grifo ans Ufer führen. Noch immer hallte ihm Gislas Schrei in den Ohren.
Vaaateeer!
Sie war verloren – unrettbar und unwiderruflich. Es hatte zwar Berichte darüber gegeben, daß die Normannen auf ihren zunehmend
häufigeren Beutezügen an der Küste des |238| Frankenreiches auch Mädchen und junge Frauen raubten, doch Gerold hätte nie geglaubt, nie damit gerechnet, daß auch hier …
Johanna! Der Gedanke traf ihn mit der Wucht eines Schwerthiebes und nahm ihm den Atem. Die Normannen hatten auch sie mitgenommen!
Gerold dachte fieberhaft nach; seine Gedanken überschlugen sich, als er noch einmal nach einer Möglichkeit suchte, die Räuber
und Mörder zu verfolgen. Doch es gab keine. Diese Barbaren hatten Johanna und Gisla geraubt und würden sie unaussprechlichen
Greueln aussetzen – und er konnte nichts,
gar nichts
tun, sie zu retten.
Gerolds Blick fiel auf einen der toten Normannen. Er schwang sich vom Rücken der Stute, riß dem Toten die langschäftige Axt
aus der verkrampften Hand und schlug damit in blinder Wut auf den Leichnam ein. Bei jedem Schlag wurde der schlaffe Körper
heftig geschüttelt; der goldene Helm rutschte dem Toten vom Kopf und enthüllte das noch bartlose Gesicht eines Jungen. Doch
blindwütig schlug Gerold weiter zu, hob wieder und wieder die Axt und ließ sie niedersausen. Das Blut spritzte in alle Richtungen
und tränkte Gerolds Kleidung.
Zwei seiner Männer setzten sich in Bewegung, um Gerold aufzuhalten, doch Grifo hielt sie zurück.
»Nein«, sagte er leise. »Laßt ihn.«
Wenige Augenblicke später schleuderte Gerold die Axt zur Seite, ließ sich auf die Knie fallen und schlug die Hände vors Gesicht.
Warmes Blut bedeckte seine Finger und verklebte sie. Heftige Schluchzer, tief in der Kehle, ließen seinen Körper erbeben,
und dann brachen die Dämme. Gerold weinte hemmungslos und ließ den Tränen freien Lauf.
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|239| 13.
COLMAR
24. Juni 833
Das Lügenfeld
Anastasius zog die schweren Vorhänge am Zelt des Papstes zur Seite und schlüpfte hinein.
Gregor, der vierte Mann dieses Namens, der auf dem Thron des heiligen Petrus saß, betete noch immer. Er kniete auf den seidenen
Kissen, die vor der kunstvoll geschnitzten Elfenbeinfigur Jesu Christi lagen, die in seinem Zelt den Ehrenplatz einnahm. Die
Figur hatte die gefahrvolle Reise über die holperigen Straßen und die baufälligen Brücken, über die hohen, trügerisch gefährlichen
Alpenpässe und durch reißende Flüsse ohne einen Kratzer überstanden. Selbst hier, in dem schmucklosen Zelt, das inmitten der
fremden Landschaft des Frankenreiches aufgestellt war, schimmerte die Figur so rein und hell wie in der Sicherheit und Geborgenheit
von Gregors Privatkapelle im Lateranpalast.
»Deus illuminatio mea, Deus optimus et maximus«,
betete Gregor, dessen Gesicht von frommer Hingabe erfüllt war.
Anastasius, der den Papst stumm vom Eingang des Zeltes aus
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