Die Päpstin
erhob keinen Widerspruch, als Johanna die Decken zurückschlug, um ihn zu untersuchen. Sie war über seinen Zustand
entsetzt. Sergius’ Beine waren bedrohlich angeschwollen; die gerötete Haut spannte sich so sehr, daß sie an einigen Stellen
bereits aufgeplatzt war. Außerdem hatte der Papst sich ernste Gelenkentzündungen zugezogen; Johanna glaubte die Ursache zu
kennen, mußte aber sichergehen, bevor sie ein endgültiges Urteil fällen konnte. Sie untersuchte Sergius’ Ohren – und da waren
sie, deutlich zu sehen: die verräterischen Tophi, kleine, kreidige Auswüchse, die Krebsaugen ähnelten und deren Vorhandensein
nur eins bedeuten konnte: Sergius litt an einem akuten Gichtanfall.
Und
das
hatten die gelehrten Doktoren nicht erkannt?
Behutsam strich Johanna mit den Fingerspitzen über die rote, durchscheinende Haut und ertastete schließlich die Entzündungsquelle.
»Wenigstens hat der hier nicht die Hände eines Fuhrknechts«, räumte Sergius mit einem Blick auf Johanna ein. Es war erstaunlich,
daß er immer noch zu Scherzen aufgelegt war, denn er brannte regelrecht vor Fieber. Johanna fühlte seinen Puls; dabei fielen
ihr die vielen Schnittwunden an seinem Arm auf, die von den Aderlässen stammten. Sergius’ Herz schlug nur schwach, und nun,
da sein Zornesausbruch verebbt war, besaß seine Haut eine kränkliche, bläulich-weiße Farbe.
Benedicte!
dachte Johanna. Kein Wunder, daß er so großen Durst hat. Die Ärzte hatten ihn so oft zur Ader gelassen, daß er beinahe verblutet
wäre.
Sie wandte sich an den Kammerdiener. »Hol mir Wasser. Mach schnell.«
Das wichtigste war jetzt erst einmal, die Schwellungen zu beseitigen, bevor sie Sergius umbrachten. Gott sei Dank hatte Johanna
das Pulver einer Colchicumknolle dabei. Sie griff in ihren Ranzen, holte ein kleines Stück gewachstes Pergament |348| hervor und faltete es behutsam auseinander, damit nichts von dem kostbaren Pulver verlorenging. Der Kammerdiener kam mit einem
Krug Wasser zurück. Johanna goß einen Becher voll und gab die empfohlene Dosis von zwei Dam – knapp zehn Gramm – Wurzelpulver
hinein. Dann fügte sie reinen Honig hinzu, um den bitteren Geschmack zu überdecken, sowie eine kleine Dosis Bilsenkraut, um
Sergius einschlafen zu lassen; denn Schlaf war das beste Mittel gegen Schmerz, und die Ruhe war die größte Hoffnung auf Genesung.
Sie reichte Sergius den Becher, der ihn gierig ergriff. »Bäh!« Er spuckte aus. »Das ist ja Wasser!«
»Trinkt«, sagte Johanna mit Nachdruck.
Zu ihrem Erstaunen gehorchte Sergius. »Und jetzt?« fragte er, als er den Becher geleert hatte. »Werdet Ihr mich zur Ader lassen,
stimmt’s?«
»Ich würde sagen, von diesen Torturen habt Ihr schon genug über Euch ergehen lassen.«
»Soll das heißen …
das
war alles?« mischte Benedikt sich verwundert ein. »Ein Becher Wasser und fertig?«
Johanna seufzte. Solchen Reaktionen war sie schon häufig begegnet. Bei der Kunst des Heilens mußte es bombastisch, dramatisch
zugehen; Mäßigung und Sachlichkeit wurden nicht geschätzt. Der asketische Geist dieser Zeit verlangte möglichst spektakuläre
Eingriffe. Je ernster die Krankheit war, desto drastischere Behandlungsmethoden wurden erwartet.
»Seine Heiligkeit leidet unter der Gicht. Ich habe ihm Colchicum gegeben, ein bekanntermaßen wirksames Mittel gegen diese
Krankheit. Gleich wird er schlafen, und wenn es Gottes Wille ist, sind die Schwellungen und der Schmerz, die ihm so sehr zu
schaffen machen, in wenigen Tagen verschwunden.«
Als wollte er beweisen, daß Johanna die Wahrheit sagte, wurde Sergius’ rasselnder Atem leiser; sein Körper entspannte sich,
und friedlich schloß er die Augen, als er einschlief.
Mit einem Knall flog die Tür auf. Ein kleiner, sichtlich angespannter Mann mit einer Miene wie ein kampfbereiter Zwerghahn
kam ins Zimmer gestürmt. Er fuchtelte Benedikt mit einer Pergamentrolle unter der Nase herum. »Da! Hier sind die Papiere.
Jetzt fehlt nur noch die Unterschrift.« Seiner Kleidung und seiner Redeweise nach zu urteilen, schien es sich um einen Kaufmann
zu handeln.
|349| »Jetzt nicht, Aio«, sagte Benedikt.
Aio schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Benedikt, ich lasse mich nicht schon wieder vertrösten. Ganz Rom weiß, daß der Papst
an einer sehr ernsten Krankheit leidet. Was ist, wenn er heute nacht das Zeitliche segnet?«
Johanna warf einen besorgten Blick auf Sergius; aber der hatte nichts gehört. Er war in einen
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