Die Päpstin
her. »Geh du vor«, sagte er. »Schließlich möchten sie dich sehen.«
Sie?
Johanna fragte sich, was er damit meinte, hatte aber keine Gelegenheit mehr, sich zu erkundigen, denn sie stand bereits ihrem
Vater und Aeskulapius gegenüber, die vor dem Herdfeuer warteten.
Johanna trat auf die Männer zu und blieb unterwürfig vor ihnen stehen. Auf dem Gesicht des Vaters lag ein seltsamer Ausdruck,
so, als hätte er irgend etwas Saures verschluckt. Er grunzte und bedeutete Johanna, vor Aeskulapius hinzutreten, der sie bereits
zu sich winkte. Er nahm Johannas Hände in die seinen und schaute ihr mit einem forschenden Blick ins Gesicht. »Du beherrschst
die lateinische Sprache?« fragte er.
|52| »Ja, Herr.«
»Wie hast du dieses Wissen erlangt?«
»Ich habe immer zugehört, Herr, wenn mein Bruder seine Stunden hatte.« Johanna konnte sich die Reaktion des Vaters auf diese
Enthüllung vorstellen. Sie schlug die Augen nieder. »Ich weiß, ich hätte es nicht tun dürfen.«
»Welches Wissen hast du dir sonst noch angeeignet?« erkundigte sich Aeskulapius.
»Ich kann lesen, Herr, und ein bißchen schreiben. Mein Bruder Matthias hat es mich gelehrt, als ich noch klein war.« Aus den
Augenwinkeln sah Johanna, wie im Gesicht ihres Vaters Zorn aufloderte.
»Zeig es mir.« Aeskulapius schlug die Bibel auf, suchte nach einem Abschnitt und hielt Johanna dann das Buch hin, wobei er
mit dem Finger auf die Stelle zeigte, die er für sie ausgesucht hatte. Es war das Gleichnis vom Senfkorn aus dem Lukasevangelium.
Johanna begann zu lesen, wobei sie über die ersten lateinischen Worte stolperte – es war eine Weile her, seit sie das letzte
Mal aus dem Buch gelesen hatte.
»Quomodo assimilabimus regnum Dei aut in qua parabola ponemus illud?
– Wem ist das Reich Gottes ähnlich, womit soll ich es vergleichen?« Ohne zu Zögern fuhr sie fort und las bis zum Ende: »Darauf
sagte er: Es ist wie ein Senfkorn, das ein Mann in seinem Garten in die Erde steckte; es wuchs und wurde zu einem Baum, und
die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen.«
Johanna hörte zu lesen auf. In der plötzlichen Stille konnte sie das leise Rascheln des Herbstwindes hören, der über das Strohdach
des Hauses wehte.
Schließlich fragte Aeskulapius leise: »Was du da eben gelesen hast – verstehst du, was es bedeutet?«
»Ich glaube schon.«
»Erkläre es mir.«
»Es bedeutet, daß der Glaube wie ein Senfkorn ist. Man pflanzt ihn im Herzen ein, genauso wie ein Same im Garten gepflanzt
wird. Wenn man den Samen des Senfkorns hegt und pflegt, wird ein wunderschöner Baum daraus wachsen. Wenn man seinen Glauben
hegt und pflegt, wird man das himmlische Königreich erlangen.«
Aeskulapius zupfte sich am Bart. Ihm war nicht anzusehen, ob er mit Johannas Antwort zufrieden war. Hatte sie die Worte falsch
ausgelegt?
|53| »Oder …« Ihr fiel eine andere Erklärung ein.
»Ja?« Aeskulapius hob die Brauen.
»Es könnte bedeuten, daß die
Kirche
wie ein Samenkorn ist. Die Kirche hat klein angefangen; sie ist im Dunkeln gewachsen, und nur Christus und die zwölf Apostel
haben sich um sie gekümmert. Aber dann ist die Kirche zu einem riesigen Baum herangewachsen. Ein Baum, dessen Schatten über
die ganze Erde fällt.«
»Und die Vögel, die in den Zweigen nisten?« fragte Aeskulapius.
Johanna dachte rasch nach. »Sie sind die Gläubigen, die Errettung in der Kirche finden, genauso wie die Vögel in den Zweigen
des Baumes Schutz finden.«
Noch immer war der Ausdruck auf Aeskulapius’ Gesicht nicht zu deuten. Wieder zupfte er sich ernst am Bart. Johanna beschloß,
noch einen dritten Versuch zu unternehmen.
»Oder …« Sie dachte gründlich darüber nach, während sie bereits nach den richtigen Worten suchte. »Das Senfkorn
könnte
für Jesus Christus stehen. Christus war wie ein Same, als man seinen Körper in der Höhle zu Grabe trug, und wie ein Baum,
als er auferstanden und zum Himmel gefahren ist.«
Aeskulapius wandte sich dem Dorfpriester zu. »Habt Ihr das gehört?«
Der Dorfpriester verzog das Gesicht. »Sie ist bloß ein Mädchen. Ich bin sicher, sie wollte sich nicht erdreisten …«
»Das Senfkorn als Symbol des Glaubens, der Kirche und Christi«, sagte Aeskulapius. »
Allegoria, moralis, anagoge.
Eine klassische Bibelauslegung über die Dreifaltigkeit. Mit ziemlich schlichten Worten ausgedrückt, gewiß, aber dennoch –
es ändert nichts daran, daß diese Auslegung so umfassend ist wie die des
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