Die Päpstin
nahm eine Feder und begann zu schreiben:
»Lieber Vater. Vergeude keine Zeit, sobald Du diesen Brief bekommen hast, und schicke den
magister militum
Daniel sofort zu mir …«
Johanna schritt im päpstlichen Schlafgemach auf und ab.
Wie,
fragte sie sich,
hatte ich nur so blind sein können?
Der Gedanke, von der Liebesnacht mit Gerold vielleicht schwanger geworden zu sein, war ihr gar nicht erst gekommen. Schließlich
war sie einundvierzig Jahre alt – weit mehr als das übliche Alter für eine Mutterschaft.
Aber Gudrun war noch älter, als sie das letzte Mal schwanger geworden war.
Und bei der Geburt des Kindes starb …
Gib dich niemals einem Mann hin.
Angst, kalt und unerklärlich, packte wie mit eisigen Fingern |524| nach Johannas Herz. Sie kämpfte gegen eine aufkeimende Panik an und versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß ihr
nicht ebenfalls passieren mußte, was ihrer Mutter passiert war. Sie war stark und gesund; sie hatte die besten Aussichten,
eine Geburt zu überleben. Doch selbst wenn – was dann? Im schwirrenden Bienenstock des Patriarchums konnte sie ihre Schwangerschaft
und die Geburt nie und nimmer geheimhalten, und es gab keine Möglichkeiten, das Kind zu verstecken. Man würde mit Sicherheit
herausfinden, daß sie eine Frau war.
Welche Strafe war einem solchen Verbrechen angemessen? Was würden die Richter entscheiden? Was es auch sein mochte – mit Sicherheit
war es eine furchtbare Strafe. Vielleicht brannte man ihr mit rotglühenden Eisen die Augen aus und geißelte ihr das Fleisch
von den Knochen. Oder sie wurde langsam zerstückelt und dann bei lebendigem Leibe verbrannt. Ein so schreckliches Ende war
unausweichlich, wenn das Kind zur Welt kam.
Falls es zur Welt kam …
Johanna legte beide Hände auf den Leib, spürte aber keinerlei Anzeichen einer Bewegung des Ungeborenen. Noch war der Lebensfaden
des Kindes sehr dünn; es bedurfte nicht viel, ihn zu zerreißen.
Johanna ging zu der verschlossenen Truhe, in der sie ihre Arzneien aufbewahrte. Kurz nach der Papstweihe hatte sie die Kräuter
und Heilmittel aus ihrem Herbarium hierherbringen lassen; hier waren sie schneller zur Hand und besser gegen Diebstahl geschützt.
Hastig durchwühlte sie den Inhalt, betrachtete die Aufschriften der verschiedenen Fläschchen und Flaschen, bis sie gefunden
hatte, was sie suchte. Schnell und geschickt bereitete Johanna ein Abtreibungsmittel. In geringen Dosen war das Mittel eine
wirksame Arznei; bei höherer Dosierung konnte es eine Frühgeburt auslösen. Allerdings wirkte es nicht immer, und die Einnahme
des Mittels war für die Frau mit ernsten Risiken verbunden.
Doch welche andere Möglichkeit hatte sie? Falls sie die Schwangerschaft nicht abbrach, würde ihr – und damit dem Kind – ein
viel grausamerer Tod bevorstehen.
Johanna führte das Fläschchen zum Mund.
In diesem Augenblick kamen ihr ungewollt die Worte des Hippokrates in den Sinn.
Die Kunst der Medizin bedeutet Verantwortung
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und Vertrauen. Als Arzt mußt du all dein Wissen stets darauf verwenden, den Kranken zu helfen, so gut dein Können und dein
Urteil es erlauben – aber niemals, unter keinen Umständen, darfst du einem Menschen Leid zufügen.
Entschlossen schob Johanna diesen Gedanken zur Seite. Ihr Leben lang war ihr weiblicher Körper eine Quelle des Kummers und
des Schmerzes für sie gewesen – Behinderung und Hindernis bei allem, was sie tun oder sein wollte. Sie würde nicht zulassen,
daß dieser Frauenkörper sie nun auch noch das Leben kostete.
Johanna setzte das Fläschchen an die Lippen und trank.
Niemals darfst du Leid zufügen. Niemals darfst du Leid zufügen. Niemals darfst du Leid zufügen.
Die Worte brannten in ihrem Innern und versengten ihr das Herz. Mit einem Schluchzer schleuderte sie das leere Fläschchen
zu Boden. Es rollte davon, und die letzten Tropfen der Arznei hinterließen ein unregelmäßiges Muster auf den Holzdielen.
Johanna lag im Bett und wartete darauf, daß die Arznei ihre Wirkung entfaltete. Die Zeit verging, doch sie spürte nichts.
Es wirkt nicht,
ging es ihr durch den Kopf. Johanna hatte Angst – und verspürte gleichzeitig eine tiefe Erleichterung. Plötzlich, als sie
sich aufsetzte, begann sie am ganzen Körper heftig und unkontrolliert zu zittern, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie
legte sich den Finger aufs Handgelenk und fühlte, daß ihr Puls rasend schnell und unregelmäßig ging.
Dann durchfuhr sie
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