Die Päpstin
Augenblick noch einmal durchlebte. Aus einem Krug, der auf dem Tisch neben
ihm stand, schenkte er sich Wein in einen silbernen Becher; dann nahm er die Pergamentrolle auf, die den letzten Brief seines
Vaters enthielt. Er brach das wächserne Siegel und entrollte das feine weiße Vellum. Sein Blick wanderte über die Zeilen,
als er mit gespanntem Interesse las. Bei dem Bericht über den Diebstahl der Leiche des heiligen Marcellinus vom Friedhof hielt
er inne.
Es war nicht ungewöhnlich, daß die sterblichen Überreste Heiliger aus ihren Gräbern gestohlen wurden; Kirchen und Klöster
auf der ganzen Welt hatten einen ständigen Bedarf an Reliquien, um möglichst viele Pilger mit dem Versprechen herbeizulocken, |522| daß diese Reliquien Wunder bewirken könnten. Seit Jahrhunderten schlugen die praktisch veranlagten Römer Kapital aus der eigenartigen
Besessenheit der Menschen, was Reliquien betraf, indem sie einen regelrechten Handel damit betrieben. Die Heerscharen von
Pilgern, die in die heilige Stadt strömten, waren bereit, riesige Summen für einen Finger des heiligen Damian zu bezahlen
oder für ein Schlüsselbein des Sankt Antonius oder für eine Wimper der heiligen Sabina.
Doch der Leichnam des heiligen Marcellinus war nicht verkauft worden; man hatte ihn gestohlen, hatte ihn in dunkler Nacht
schmählich aus seinem Grab gezerrt und aus der Stadt geschmuggelt.
Furta sacra
– Diebstahl heiliger Gegenstände – wurden derartige Verbrechen genannt. Man mußte ihnen ein Ende bereiten; andernfalls wurde
die Stadt ihrer größten Schätze beraubt.
»Nach dieser scheußlichen Untat«, schrieb Anastasius’ Vater, »haben wir Papst Johannes gebeten, die Zahl der Wachtposten auf
den Kirchhöfen und Friedhöfen zu verdoppeln, doch er hat sich geweigert. Er sagte, die Menschen wären sinnvoller damit beschäftigt,
sich um die Lebenden statt um die Toten zu kümmern.«
Anastasius wußte, daß Johannes eine große Anzahl päpstlicher Gardesoldaten zum Bau von Schulen, Hospitälern und Armenhäusern
abgestellt hatte. Der Papst verwendete seine Zeit und Aufmerksamkeit – wie auch den größten Teil der päpstlichen Gelder –
auf derart weltliche Dinge, während die Kirchen der Stadt dem Verfall preisgegeben wurden. Anastasius mußte daran denken,
daß seit Johannes’ Amtsantritt die Bischofskirche seines Vaters nicht einmal eine goldene Lampe oder einen silbernen Kandelaber
bekommen hatte.
Doch auf die zahllosen Kathedralen, Oratorien, Baptisterien und Kapellen gründete sich der Ruhm der Stadt! Falls diese Bauwerke
nicht fortwährend verschönert und verbessert wurden, durfte Rom nicht darauf hoffen, mit der Pracht seiner östlichen Rivalin
Konstantinopel wetteifern zu können, die sich bereits dreist als »das neue Rom« bezeichnete.
Falls – nein, verbesserte Anastasius sich selbst –
sobald
er Papst wurde, würde sich vieles ändern. Er würde Rom wieder zu alter Größe führen. Unter seiner segensreichen Schirmherrschaft
würden die Kirchen der Stadt in neuem Glanz erstrahlen, |523| großartiger und prächtiger als die schönsten Paläste von Byzanz. Das – Anastasius wußte es genau – war die Mission, mit der
Gott ihn auf Erden betraut hatte.
Er wandte sich wieder dem Brief seines Vaters zu. Doch sein Interesse war nicht mehr so groß wie zuvor; denn der letzte Teil
des Schreibens behandelte Themen von geringerer Bedeutung; zudem enthielt er eine Liste mit den Namen jener Männer, die im
Rahmen der bevorstehenden Feiern des Osterfestes die Priester- oder Bischofsweihen erhalten sollten. Des weiteren teilte Arsenius
mit, daß Cosmas, Anastasius’ Vetter, wieder geheiratet habe, diesmal eine verwitwete Diakonissin. Und ein gewisser Daniel,
seines Zeichens
magister militum,
sei höchst erzürnt, weil sein Sohn bei der Vergabe eines Bischofsamtes zugunsten eines Griechen übergangen worden war.
Anastasius setzte sich jäh auf. Ein Grieche sollte Bischof werden? Sein Vater schien dies lediglich als ein weiteres Beispiel
für Papst Johannes’ bedauerlichen Mangel an
romanita,
an Römertum zu betrachten. Konnte es sein, daß Arsenius die Möglichkeiten übersehen hatte, die sich aus dieser Bischofsernennung
ergeben mochten?
Das ist die Möglichkeit, auf die ich so lange gewartet habe!
dachte Anastasius mit wachsender Erregung. Schließlich und endlich hatte das Schicksal ihm
doch noch
eine Chance gegeben.
Rasch erhob er sich, setzte sich ans Schreibpult,
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