Die Päpstin
deine Schwester ihre Lektionen niederschreibt?« Er tippte mit dem Finger auf Johannas schriftliche Arbeit. »Du mußt
mehr Respekt vor dem Pergament bekommen, mein Junge – man braucht ein ganzes Schaf, um einen Folianten herzustellen. Würden
die Mönche in Andernach die Buchstaben über die Seiten verstreuen, wie du es tust, wären die Herden Austriens binnen eines
Monats aufgebraucht.«
Johannes warf seiner Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das ist zu schwer für mich«, sagte er. »Das schaffe ich nicht.«
Aeskulapius seufzte. »Also gut. Geh wieder an deine Schreibtafel zurück und mach dort weiter. Wenn du gelernt hast, die Hand
besser zu führen, werden wir’s noch einmal mit dem Pergament versuchen.« Er wandte sich Johanna zu. »Hast du Ciceros
De inventione
durchgearbeitet?«
»Ja, Herr«, erwiderte Johanna.
»Dann nenne mir die sechs Fragen, die man stellen muß, um die Umstände des menschlichen Handelns eindeutig beweisbar zu bestimmen.«
Johanna antwortete, ohne zu zögern: »
Quis, quid, quomodo, ubi, quando, cur.
– Wer, was, wie, wo, wann, warum.«
»Gut. Und nun bezeichne mir die rhetorischen
constitutiones
.«
»Cicero nennt vier verschiedene
constitutiones
: den Disput über die Tatsache, den Disput über die Definition, den Disput über die Natur des Handelns, und den …«
Ein dumpfer Laut ertönte, als Gudrun die Tür auftrat und hereinkam, gebeugt vom Gewicht der zwei schweren hölzernen Wassereimer,
die sie schleppte, die Hände um die |64| Tragegriffe gekrampft. Johanna stand auf, um der Mutter zu helfen, doch Aeskulapius legte ihr die Hand auf die Schulter und
drückte sie in den Stuhl zurück.
»Und? Weiter?«
Johanna zögerte, den Blick noch immer auf die Mutter gerichtet.
»Mach weiter, Kind.« Der Klang von Aeskulapius’ Stimme ließ erkennen, daß er keinen Ungehorsam dulden würde.
Johanna beeilte sich, zu antworten. »Den Disput über die Rechtsprechung.«
Aeskulapius nickte zufrieden. »Mache mir eine Zeichnung des dritten
status
. Zeichne sie auf dein Pergament und fertige sie so an, daß es sich lohnt, sie aufzubewahren.«
Gudrun machte sich drinnen zu schaffen. Sie entfachte ein Feuer, kochte das Wasser im Topf auf und deckte den Tisch für das
bevorstehende nachmittägliche Essen. Dabei schaute sie ein-, zweimal mißmutig über die Schulter.
Johanna verspürte einen Anflug von Schuldgefühl, zwang sich aber, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit zu richten. Diese
Zeit war kostbar – Aeskulapius kam schließlich nur alle zwei Wochen –, und die Studien waren Johanna wichtiger als alles andere.
Doch es war schwer, unter der Last des mütterlichen Mißfallens zu lernen und zu arbeiten. Offensichtlich entging Gudruns Haltung
auch Aeskulapius nicht; doch führte er ihre Ablehnung darauf zurück, daß der Unterricht Johanna davon abhielt, ihren häuslichen
Arbeiten nachzukommen. Johanna aber kannte den wirklichen Grund für Gudruns Unmut: Ihre Studien waren ein Verrat an jener
Welt, die sie allein mit der Mutter teilte – die Welt der Sachsengötter und der uralten Geheimnisse dieses Volkes. Indem Johanna
die lateinische Sprache lernte und christliche Texte studierte, entfremdete sie sich der einen Hälfte ihres Selbst, ihrer
Herkunft, und verbündete sich mit jenen Dingen, die ihre Mutter haßte wie sonst nichts auf der Welt: dem christlichen Gott,
der ihre Heimat und ihre Familie zerstört hatte. Und – was noch wichtiger war –, Johanna verbündete sich mit dem Dorfpriester,
der für dies alles stand.
In Wahrheit aber beschäftigte Johanna sich vor allem mit vorchristlichen, klassischen Texten. Aeskulapius bewunderte und schätzte
die ›heidnischen‹ Schriften des Cicero, Seneca, Lucanus und Ovid, die von den meisten Gelehrten seiner Zeit |65| als Irrlehren und Ketzerei betrachtet wurden. Er lehrte Johanna, Griechisch zu lesen und sich mit den uralten Texten des Menander
und Homer zu beschäftigen, deren Dichtkunst der Dorfpriester schlichtweg als ›heidnische Blasphemie‹ betrachtete. Johanna
dagegen hatte sich noch nie die Frage gestellt, ob Homers Texte mit den Grundsätzen der christlichen Lehre vereinbar waren
oder nicht. Aeskulapius hatte sie gelehrt, die gedankliche Klarheit und den Stil zu schätzen – und eben darin zeigte sich
Gott; denn Homers Werke waren von göttlicher Schönheit.
Johanna hätte dies alles gern ihrer Mutter erklärt; doch sie wußte, daß es nichts geändert hätte.
Weitere Kostenlose Bücher