Die Päpstin
Domschulen unterrichtete – in Reims, zum Beispiel, oder gar an der
scola palatina
–, und wie sie ihre Zeit damit verbrachte, das Wissen aller Zeitalter zu erkunden, gemeinsam mit Menschen, die einen ebenso
wißbegierigen, von Forscherdrang getriebenen Geist besaßen wie sie selbst. Der Tagtraum war unfaßbar schön – wie jedesmal.
Aber das würde bedeuten, daß du Villaris verlassen mußt – und damit Gerold,
ging es ihr durch den Kopf, und wie jedesmal schmerzte dieser Gedanke sie zutiefst.
Daß
sie eines Tages von Villaris fort mußte, war Johanna klar. Doch im Laufe der letzten Monate hatte sie diesen Gedanken beiseite
geschoben und war es zufrieden gewesen, in der Gegenwart zu leben und die Freude und das Glück zu genießen, jeden Tag mit
Gerold zusammenzusein.
Johanna schaute zu ihm hinüber, ließ den Blick auf ihm ruhen. Sein Profil war fest und dennoch fein geschnitten, seine Gestalt
hochgewachsen und gerade, und sein rotes Haar fiel ihm dicht und gelockt bis auf die Schultern.
Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe,
dachte Johanna – nicht zum erstenmal.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, drehte Gerold sich zu ihr um. Ihre Blicke trafen sich. Irgend etwas in seiner Miene –
ein flüchtiger Ausdruck von Zärtlichkeit und Weichheit – durchrieselte Johanna bis in ihr Innerstes. Dann, binnen eines Augenblicks,
war der Ausdruck verschwunden, noch bevor Johanna sich dessen bewußt geworden war; doch immer noch lag die Wärme auf Gerolds
Gesicht.
Ich mache mir unnötige Sorgen,
sagte sich Johanna.
Jetzt braucht ja noch gar nichts entschieden zu werden.
Drei Jahre waren eine lange Zeit.
In drei Jahren konnte sehr viel geschehen.
Als Johanna in der nächsten Woche von der Domschule nach Hause kam, sah sie Gerold im Säulengang stehen und auf sie warten.
»Komm mit.« Sein Tonfall ließ erkennen, daß er eine Überraschung auf Lager hatte. Er winkte ihr und setzte sich in Richtung
des äußeren Tores in Bewegung. Durch die Umzäunung der Burganlage gelangten sie in ein Waldstück auf dem Hügelhang |181| und erreichten einige Zeit später eine Lichtung am Fuß des Hügels, in deren Mitte sich eine kleine Hütte befand, die in der
Art eines Grubenhauses erbaut war. Das Gebäude war nicht mehr bewohnt und dermaßen verfallen, daß man es nicht mehr herrichten
konnte. Doch einst mußte es das behagliche Heim eines Freien gewesen sein; denn die Wände aus lehmverkleidetem Flechtwerk
waren dick und fest, und die Tür war aus massiver Eiche. Das Bauwerk erinnerte Johanna an das Haus ihrer Eltern in Ingelheim,
wenngleich dieses Grubenhaus hier viel kleiner war, und sein Strohdach war verrottet und wies Löcher auf.
Johanna und Gerold machten vor der Eingangstür des kleinen Bauwerks halt. »Warte hier«, sagte Gerold. Johanna beobachtete
neugierig, wie er das Gebäude einmal umrundete und dann wieder neben ihr stehenblieb.
»Und nun siehe und staune«, sagte er mit gespieltem Ernst, hob die Arme über den Kopf und klatschte dreimal laut in die Hände.
Nichts geschah. Johanna schaute Gerold fragend an. Der große Mann blickte erwartungsvoll auf die Hütte. Offensichtlich sollte
irgend etwas passieren. Aber was?
Mit einem lauten, knarrenden Geräusch schwang die schwere Eichentür auf – zuerst ganz langsam, dann immer schneller. Doch
hinter der Tür war nur finstere Leere zu sehen. Johanna strengte die Augen an. Nein, es war niemand darin. Die Tür hatte sich
von selbst bewegt!
Fassungslos starrte Johanna auf die Eichentür. Ein Dutzend Fragen schossen ihr durch den Kopf, doch die naheliegendste drängte
sich in den Vordergrund.
»Wie …?« fragte sie.
In gespielter Andächtigkeit blickte Gerold zum Himmel. »Ein Wunder.«
Johanna schnaubte.
Gerold kicherte. »Na gut. Dann eben Hexerei.« Er blickte sie herausfordernd an; offensichtlich machte die Sache ihm Spaß.
Johanna nahm die Herausforderung an. Sie marschierte zur Tür und betrachtete sie eingehend. »Kannst du sie wieder zumachen?«
Erneut hob Gerold die Arme und klatschte dreimal in die Hände; nach einer Pause quietschte und ächzte die Tür und |182| begann sich wieder zu bewegen; diesmal schwang sie an den Angeln langsam nach innen. Johanna ging hinter dem Türblatt her,
während es sich bewegte, und nahm es genauestens in Augenschein. Die schweren Eichenbretter waren glatt und fest zusammengefügt;
an der Tür war nichts Ungewöhnliches zu sehen; ebensowenig an dem schlichten
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