Die Pan-Trilogie, Band 1: Das geheime Vermächtnis des Pan (German Edition)
Locken aus dem Gesicht. Trugen Nymphen eigentlich auch Mascara und Lippenstift? Auf jeden Fall Rouge. Mit so perfekten Wangen konnte niemand geboren sein.
Lee registrierte mich wie immer sofort. Er warf einen prüfenden Blick auf meine Aufmachung und nickte anerkennend.
Ich seufzte. Sein Gesicht hatte ganz anders ausgesehen, als ich aus der Umkleidekabine von George getreten war.
Nun ja, fairerweise hatte ich da ein grandioses Abendkleid getragen, mit umwerfenden Pumps, und meine Haare waren fantastisch gestylt gewesen.
»Oh, deine Haare«, sagte Lee auch prompt.
Ich wurde rot. Ich hatte einen Moment lang vergessen, dass er meine Gedanken lesen konnte, wenn wir uns in die Augen sahen.
»Du musst eine Haube tragen oder ein Tuch. Äh …« Er sah hilfesuchend zu der wunderschönen Nymphe im Wasser.
Sie zuckte ergeben die Schultern »Ich mach das schon.« Mit einem Zug hievte sie sich aus dem Wasser. Formvollendete Beine, ein perfekt modellierter Körper.
Hatte ich was anderes erwartet? Doch als sie mich berührte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Auch wenn Mildred nur einen Bikini trug, war ihre Haut so kalt wie ein raureifüberzogenes Blatt und dabei so glitschig wie ein Frosch.
»Was hast du erwartet? Ich bin Kaltblüter«, sagte sie und trat hinter mich. Mit wenigen Griffen hatte sie meine Haare hochgesteckt und drapierte eine gewebte Haube darüber. Dann drehte sie mich um und musterte mich zufrieden. »Voilà. Ihr könnt los.«
»Gibt es hier einen Spiegel?«, fragte ich, obwohl ich nicht sicher war, ob ich das tatsächlich sehen wollte.
»Du siehst gut aus, Felicity«, sagte Lee beruhigend und nahm meine Hände.
»In diesen Klamotten sieht niemand gut aus«, korrigierte Mildred trocken. »Aber anders würdest du zu sehr auffallen. So laufen hier alle rum.«
Na, vielen Dank auch. Lee seinerseits sah trotz der langen Tunika über Pluderhosen fantastisch aus. Groß, männlich, stark − und mit diesem engelhaften Gesicht konnte er sogar einen solchen Sack tragen. Außerdem machte ihn das Schwert am Gürtel sehr verwegen.
»Bekomme ich auch eine Waffe?«, fragte ich.
»Wozu?« Lee klang ehrlich verblüfft.
»Um mich zu verteidigen?«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass du dich mit deinem eigenen Dolch verletzt ist wesentlich größer«, erklärte er und lächelte. Es sah mitleidig aus. »Du hattest nie einen Kurs in Selbstverteidigung.«
»Ich hatte auch nicht an einen Dolch gedacht«, murmelte ich und fühlte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss.
»Keinen Dolch?«, hakte Mildred erstaunt nach. »Pfeil und Bogen? Armbrüste sind noch äußerst selten in dieser Zeit. Ah, ich hab’s: eine Schleuder!«
»Eine Achtunddreißiger wäre nicht drin?«, fragte ich kleinlaut. »Wenigstens Pfefferspray?«
Mildred lachte laut und hielt sich den Bauch.
Lee seufzte. Er fasste mich am Unterarm. »Gehen wir. Danke, Mildred. Bis ein andermal.«
»Ruf mich. Ich bin in dieser Zeit in fast jedem Brunnen zu erreichen. Aber der in Glastonbury ist der Schönste.«
Sie sprang zurück ins Wasser – es spritzte, als ob ein Frosch einen Bauchplatscher gemacht hätte – und war verschwunden.
»Weißt du, Lee, jetzt, wo ich weiß, was du bist, bist du lange nicht mehr so unheimlich wie am ersten Tag auf dem College.«
Er sah mich stirnrunzelnd an. Ich wusste, er versuchte meine Gedanken zu lesen. »Genau das ist wirklich seltsam, Felicity«, sagte er und klang ehrlich verwirrt. »Du bist der widersprüchlichste Mensch, der mir je begegnet ist.«
Wir gingen in normaler Menschengeschwindigkeit in Richtung des Ortes. Ich hatte Zeit und Ruhe mich umzusehen und nahm alles mit Erstaunen wahr. In Cornwall aufgewachsen kannte ich gepflügte Felder, aber die hier waren wesentlich weniger dicht bestellt, nicht so exakt und gerade. Der Ort vor uns war primitiv. Grob gezimmerte, strohgedeckte Häuser. Eigentlich sah es eher aus wie eine Wikinger-Siedlung. Ein halbzerfallener Palisadenzaun, Lehmfundamente und schlecht gebundene Gatter für ein paar magere Kühe erinnerten mich an die Filme
Wikinger
oder
Jabberwocky
. Gänse und Hühner rannten frei herum, unter anderen eine Glucke mit zehn Küken. Ich konnte zwar erkennen, dass die Menschen hier ähnlich gekleidet waren wie wir, trotzdem starrte uns jeder an.
»Mein Hosenstall kann nicht offen sein, aber hängt vielleicht das Unterhemd raus?«, fragte ich Lee.
Lee prustete und hielt sich die Hand vor den Mund. »Nein. Sie sehen nur selten fremde Menschen. Wahrscheinlich denken
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