Die Pan-Trilogie, Band 1: Das geheime Vermächtnis des Pan (German Edition)
geradem Ausschnitt. Es wirkte wie ein Relikt von Grace Kelly.
»Wow!«, sagte ich bewundernd. »Das sieht toll aus.«
»Probier erst mal, ob du reinpasst. Du warst immer dicker als ich«, sagte Anna in ihrer üblichen ehrlichen Art.
Ich ging ins Wohnzimmer. Mit Genugtuung stellte ich fest, dass es nicht nur passte, sondern auch ein wenig zu weit war. Mein wöchentliches Joggen mit Lee und Jayden trug langsam Früchte.
Aber wenn sie das sähe, könnte es sein, dass sie es mir nicht lieh. Meine Schwester wollte immer und überall die Schönste und Tollste sein. Gerne auch auf Kosten anderer. Also zog ich das Kleid wieder aus, steckte es in die knisternde Plastikfolie und ging zurück in die Küche.
»Es geht«, sagte ich zu ihr. »Da der Ball erst Anfang Januar ist, werde ich bis dahin nichts Süßes mehr essen und dann passt es.«
Sie schien zufrieden. Jacob wollte mit seinen schokoladenverschmierten Fingern die knisternde Folie anfassen. Schnell brachte ich den Saum des Kleides außer Reichweite.
»Meine Güte, Felicity, jetzt hab dich nicht so«, fauchte Anna. »Er will doch bloß wissen, was das ist.«
»Sobald er saubere Finger hat«, sagte ich bestimmt.
»Gott, bist du empfindlich«, schnauzte sie. »Das ist doch nur Folie. Jetzt lass ihn schon fühlen, sonst musst du dir ein anderes Kleid besorgen.«
Zähneknirschend senkte ich den Arm und Jacob griff begeistert in die Folie – und darunter. Braune Flecken mit seinen Fingerabdrücken prangten jetzt auf dem Saum.
»Ich gehe jetzt. Danke fürs Leihen«, sagte ich erstickt. Hoffentlich bekam ich die Flecken raus.
»Komm, Jacob, Tante Felicity ist keine Kinder gewöhnt. Vielleicht sollte sie Weihnachten auch zu Hause bleiben.«
Anna nahm Jacob auf den Schoss und warf mir einen giftigen Blick zu, als der Kleine anfing zu weinen, weil ich ihm sein neues Spielzeug entzog.
Ich versuchte zu retten, was zu retten war. »Soll ich was mitbringen? Den Nachtisch oder so?«
»Tust du das nicht immer?«, fragte Anna schnippisch. »Ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern. Jeremys Bruder hat sich auch hier eingenistet. Mach dich also hübsch. Vielleicht beachtet er dich ja mal.«
»Wir sehen uns in vier Tagen. Ich bringe den Nachtisch mit«, sagte ich und verließ das Haus. Auf Jeremys Bruder konnte ich gut und gerne verzichten. Wie immer atmete ich erleichtert auf, sobald sich die Türe hinter mir geschlossen hatte.
Aber der Gang nach Canossa hatte sich gelohnt: Ich hatte ein Kleid und konnte auf den Ball gehen.
HEILIGABEND
Eigentlich freut man sich auf Heiligabend. Eigentlich genießt man die Gesellschaft seiner Familie in trauter Runde. Eigentlich sitzt man voller Erwartung zusammen, gespannt auf die Geschenke, die freudigen Gesichter der anderen.
Eigentlich.
Mein Magen wurde immer schwerer, je mehr wir uns Annas Haus näherten. Missmutig stapfte ich an der Seite meiner Mutter durch den Nieselregen. Mum war gut gelaunt. Sie summte und plapperte hin und wieder sinnloses Zeug wie »Weißt du noch …?« Es war ungewöhnlich still für London. Gedämpft konnte man aus anderen Häusern Menschen lachen oder singen hören.
Endlich erreichten wir Annas Reihenhaus.
»Oh, ist das hübsch«, rief Mum und ihre Augen glänzten.
Ich schluckte. Anna hatte die gesamte Front mit Lichtschläuchen verziert und im Garten stand ein leuchtendes Rentier neben einem aufblasbaren leuchtenden Schneemann. Der kleine Weg zur Haustür war mit einem Sternennetz links und rechts erhellt und aus dem oberen Fenster – Jacobs, wie ich wusste – strahlte ein Weihnachtsmann mit Schlitten auf uns nieder. Natürlich bestand das alles nicht aus dezentem weißem Licht, sondern aus funkelnden, bunten Lämpchen. War das jetzt eine Botschaft? Eine Botschaft nicht im Sinne von »Frieden für alle Menschen auf der Welt«, sondern an mich, eine Art Warnung, wie dieser Abend ablaufen würde? Annas Haus leuchtete am hellsten in der ganzen Straße. Ich fand es schrecklich ordinär. Aber meine Mutter schien aufrichtig begeistert.
Dann hörten wir es vor der Haustür: Jacob schrie. Jeremy schimpfte, Anna zeterte.
»Ach herrje«, sagte Mum erschrocken. »Ich fürchte, wir stören. Lass uns gehen.« Sie drehte sich um.
Ich hielt sie am Ärmel fest. »Mum, sie erwarten uns.«
Meine Mutter sah unsicher zu der Tür, hinter der die Stimmen lauter wurden. Sie hatte sich noch immer nicht umgewandt.
Ich fasste es nicht. Meine Mutter kam nur einmal im Jahr hierher und selbst jetzt wollte sie
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