Die Papiermacherin
Mitglieder seiner eigenen Familie gemeint hatte, und erschrak darüber. Trotz des verlockenden Angebots, das dieser Venezianer ihr machte, war es ihr doch ausgesprochen unsympathisch, dass er auf so respektlose Weise von seinem Vater und seinem Großvater sprach. Für sie selbst, die immer allergrößte Hochachtung für ihren Vater empfunden hatte, wäre es unvorstellbar gewesen, so über Meister Wang zu reden.
Ihm in dieser Weise entgegenzutreten hätte sie schon als schändlich und undankbar empfunden – aber es in seiner Abwesenheit und vor Fremden zu tun war in ihren Augen noch viel niederträchtiger.
Unterschieden sich die Sitten der Venezianer in diesem Punkt derart von dem, was sie in Konstantinopel kennengelernt hatte? Oder lag ihr die Welt dieses schön angezogenen, großspurig daherkommenden jungen Mannes einfach zu fern, der ein Geschäft nicht in erster Linie gründete, um seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, sondern um den älteren Männern in seiner Familie etwas zu beweisen.
Hüte dich vor dem schnellen Urteil!, ermahnte sie sich selbst. Ihr Vater hatte das oft zu ihr gesagt. Die Dinge waren manchmal nicht das, was sie schienen.
Lorenzo wandte sich an Arnulf. »Meine Geschäfte in Konstantinopel sind früher erledigt, als zu erwarten war. Mein Schiff ist bereits beladen und fertig zum Ablegen. Aber wenn Evangelia Bedenkzeit braucht, bin ich bereit, ihr diese zu geben und ein oder zwei Tage länger zu bleiben. Das müsste ausreichen, um alles zu regeln, was noch einer Regelung bedarf.«
Nachdem Lorenzo D’Antonio gegangen war, wandte sich Li zunächst an Christos. Er hatte von der Unterhaltung kaum etwas verstanden, da er nur Griechisch sprach. Li erklärte ihm in knappen Worten, worum es ging.
»Also, wie ich das sehe, hast du hier nichts zu verlieren, aber in Venedig könntest du mir helfen, eine neue Werkstatt aufzubauen – und ich bin überzeugt, dass du in nicht allzu langer Zeit selbst zum Meister werden würdest!«
»Ihr halst Euch die Gesellschaft eines augenlosen Krüppels auf!«, gab Christos zu bedenken.
»Gibt es denn irgendjemanden oder irgendetwas, das dich in Konstantinopel hält?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein – nichts.«
»Dann mach dich bereit.«
»Ich werde damit beginnen, meine wenigen Habseligkeiten zu packen«, erklärte er, bevor er zur Tür hinausging und sich auf den Weg zu seiner Schlafstätte machte, die Li wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen würde.
Sie atmete tief durch und bemerkte, dass Arnulf sie offenbar schon geraume Zeit aufmerksam beobachtete. Das weiche Kerzenlicht wurde unruhig, als sich die Tür hinter Christos schloss und ein Luftzug entstand. Es ließ Schatten über Arnulfs Gesicht hinwegtanzen.
»Das kam sehr unerwartet«, sagte sie.
»Im Herzen hast du dich längst entschieden, oder?« Arnulf erzählte ihr, dass er durch Fra Branaguorno von den Plänen des Venezianers erfahren hatte, in Venedig eine erste Papierwerkstatt zu gründen. »Ich habe Branaguornos ausdrückliche Anweisung sträflich missachtet, als ich Lorenzo im Händlerquartier aufsuchte! Aber das soll mir gleichgültig sein.«
Er trat an sie heran und strich ihr zärtlich über das Haar. Dann zog sie ihn an sich und umarmte ihn, so fest sie konnte. Wie viele Momente wie diesen wird es für mich wohl noch geben, da ich den Herzschlag dieses geliebten Mannes spüre?, dachte sie und murmelte dann: »Es wird nichts ändern, wenn ich nach Venedig gehe, nicht wahr? Das Schiff wird anlegen, und du bleibst vielleicht noch ein paar Tage, wenn die Treue zu deinem Kaiser und der garstige Mönch in deiner Begleitung es dir erlauben …«
Er drückte Li an sich und strich mit seinen starken Händen über ihren Rücken.
»Ja, so wird es sein«, gab er zu. »Aber dieser Lorenzo ist kein Schwätzer. Hinter ihm steht eine der mächtigsten Familien Venedigs. Gegen ihn ist jemand wie Ragnar, der Weitgereiste, ein Bettler. Wenn er davon spricht, in Venedig Papier herstellen zu wollen, dann meint er dies wirklich im großen Maßstab.«
»Wir werden sehen, was sich von seinen Worten erfüllt.«
»Du traust ihm nicht?«
»Ich bin vorsichtig, Arnulf. Nur vorsichtig.«
Einundzwanzigstes Kapitel
Papiere
Grausige Schreie hallten durch die Gewölbe tief unter dem Palast des göttlichen Kaisers aller Rhomäer. Schlimmer als in diesen Folterkellern ging es wohl auch in der Hölle nicht zu. Fünf Männer begleiteten Petros Makarios in diese Unterwelt. Zwei von ihnen
Weitere Kostenlose Bücher