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Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit

Titel: Die Parallelklasse - Ahmed ich und die anderen - Die Luege von der Chancengleichheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Bauer
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der Indikator dafür, wie viele Türken und Araber und Menschen aus sonstigen fernen Ländern in einem Haus leben. Sibel sitzt unten in der Bäckerei, in der es nach den trockenen, aber leckeren Keksen duftet, die sie Kurabiye nennen. »Ich habe nicht so viel Zeit«, begrüßt mich Sibel, »mein Sohn schläft und mein Mann passt auf, aber er muss bald zur Arbeit.« Ihr Handy klingelt. Sie spricht leise und auf Türkisch. »Es war mein Mann«, sagt sie, »er ist schon misstrauisch, ich treffe nicht so oft fremde Männer.« Sie nickt mit ihrem Kopf hoch zu dem Brückenhaus. »Da, im fünften Stock, bestimmt steht er am Fenster.« Im fünften Stock bewegt sich die Gardine. Eine Rüschengardine.
    »Diese Bäckerei hat mal meinem Vater gehört«, sagt Sibel, »ich stand nach der Schule jeden Tag hinter der Theke.« Der Vater musste die Bäckerei aufgeben vor zwei Jahren. Er hatte nie gerne Pide und Kekse verkauft, eigentlich ist er Musiker, spielt in traditionellen kurdischen Gruppen. Er hatte gehofft, mit den Backwaren mehr Geld zu verdienen, aber er spielt besser Saz, als er Brot backt. Sibel blickt lange in den Raum. »Waren trotzdem gute Zeiten«, sagt sie.
    Meine Mutter erzählte mir einmal nach einem Elternabend, dass Sibel einen sehr furchteinflößenden Vater habe, und fragte mich, ob Sibel sich manchmal merkwürdig verhalte. Nun, Sibel war ein Mädchen, das stärker war als die meisten Jungs. Es gab einige Klassenkonferenzen wegen ihr, sie wehrte sich, wenn die Jungs aus den höheren Klassen ihr verbieten wollten, mit ihnen Fußball zu spielen. Sibel boxte sich durch die Grundschule. Sie war eine Problemschülerin mit wenig Problemen im Unterricht. Trotzdem durfte sie nicht aufs Gymnasium, weil ihr Vater das nicht wollte. Das Leben, das seine Tochter führen sollte, war ein anderes als das Leben, das Sibel führen wollte. Womit ihr Vater nicht gerechnet hatte: dass Sibel sich nicht nur gegen die Jungs auf dem Pausenhof wehren konnte – sondern auch gegen ihn. Sie ging zwar, wie von ihm gewünscht, auf die Realschule. Aber wichtiger war ihr, was nach der Schule passierte. Sibel und ihre Clique kifften viel. Sehr viel. Die anderen aus der Clique trauten sich nicht, auch zuhause aus ihrer großen Glasbong, die einer aus Amsterdam mitgebracht hatte, zu rauchen. Sibel aber sagte: Kommt alle zu mir. Sie saßen in ihrem Zimmer, die kleinen Geschwister lugten durchs Schlüsselloch und der Vater brüllte im Wohnzimmer. Die Grasfahnen wehten durch die Wohnung. Am Wochenende sagte der Vater: Du darfst nicht weg. Aber Sibel ging auf jede Party und kam erst nach Sonnenaufgang wieder. Die Mutter bereitete das Frühstück zu, wenn Sibel in die Küche torkelte. »Mach deinem Vater keine Schande«, sagte die Mutter, aber sie lächelte dabei. Sie hatte eine starke Tochter. Sie war stolz.
    »Mein Vater hat mir mal eine Ohrfeige gegeben«, erzählt Sibel, »aber er hatte genauso viel Angst vor mir wie ich vor ihm. Er hat mich verflucht, aber nach dieser Ohrfeige nie wieder angefasst und in Ruhe gelassen.« Bis Sibel es zu weit trieb. Sie lernte einen jungen Türken kennen, eigentlich ein netter Kerl, auch ein Alevit, wie Sibels Familie. Sibel war das einzige alevitische Kind in unserer Klasse, die anderen türkischstämmigen Klassenkameraden kamen aus sunnitischen Familien. Sibel ist bis heute eine stolze Alevitin und Kurdin, sie trägt noch immer ihre Halskette mit dem gebogenen Schwert, sie sagt noch heute ihren sunnitischen Freunden, dass sie Kopftücher bescheuert findet. Aber dieser junge Türke, den Sibel kennen lernte, kiffte noch mehr als sie und er war erst siebzehn Jahre alt – wie sie. Er hatte nur eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung und lebte bei seinem Bruder. Sibel wollte ihn heiraten. Der Vater sagte: Wenn du das tust, wirst du deine Familie nie wiedersehen. Die Mutter schwieg. Und Sibel gehorchte zum ersten Mal. »Das war ein Fehler«, sagt sie, »das hat mich unglücklich gemacht.« Ihr Freund musste zurück in die Türkei, wie der von Elin. Drei Jahre sah Sibel ihn nicht. Drei Jahre sprach Sibel kein Wort mehr mit ihrem Vater. Dann sagte der: »Na los, er soll herkommen!« Es gab ein großes Fest in einer ehemaligen Supermarkthalle, die heute »Müzik Hall« heißt und in der fast jeden Tag große, türkische Hochzeiten gefeiert werden. Anders als Elin hatte Sibel ihren Mann davon überzeugt, dass sie nicht in der Türkei, sondern hier heiraten will. Und anders als Elins Mann wollte Sibels Mann gerne

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