Die Partie. Thriller (German Edition)
vor dem Mord. Immer mehr flüchtete er sich in die Lektüre des Krähenbuchs, ließ sich von der Atmosphäre aufsaugen. Da muss es noch mehr geben, sagte er sich schießlich. Vielleicht müsste er noch mehr tun. Viel mehr.
Der Entführer steht vor dem Vogelkäfig und betastet die schlaffen Falten in seinem Gesicht. Er ist müde, nimmt es aber selbst nicht wahr.
»Endlich tun wir etwas, Munin«, sagt er zu der Krähe. »Wir sind die wahren Meister der Tat, mein Freund.«
Diesmal hat er alles getan, um von seiner inneren Zerrissenheit erlöst zu werden, denkt er. Und wenn es bei diesem Spiel nicht klappt, dann wird er eben mit der ganzen Stadt untergehen. Er ist Alois Brun, er ist Carl Theodor und er ist die tote Krähe Hugin. Er kämpft den Kampf gegen Dekadenz und Mittelmäßigkeit, gegen Idiotie und Moderne, und er muss triumphieren. Er ist in der Lage das perfekte Verbrechen zu begehen. Und wenn er ein noch größeres, noch perfekteres Verbrechen begeht, dann wird er sich endlich lebendig fühlen.
Er senkt den Kopf. Sein Mobiltelefon klingelt. Er führt die Maske über sein Gesicht und schnürt sie sich fest um den Schädel. Das Spiel muss weitergehen.
35
Eva und Kimski gehen auf die Jesuitenkirche zu. Auf dem von Kopfsteinpflaster gesäumten Vorplatz bleiben sie stehen.
»Wir müssen hinter die Kirche. Das Gemälde zeigte die hintere Kuppel.«
Sie wechseln auf die andere Straßenseite und sehen empor. Zwei Rundbauten prangen auf dem großen Kirchenschiff. Auf der abschließenden Halbkugel thront ein kleiner Turm.
»Sie könnten recht haben.«
Die beiden marschieren die schmale Gasse entlang, die an dem Gotteshaus vorbeiführt. Dahinter kommen sie zuerst am Ursulinengymnasium vorbei. Dann sehen sie die Sternwarte. Der 30 Meter hohe Turm ragt zwischen Bäumen und Geäst empor und wirkt dabei doch so versteckt, dass man ihn im modernen Stadtbild kaum wahrnimmt. Der schmale Pfad, der zu dem alten
Gemäuer führt, ist kaum zu sehen, umrahmt von Grün, während direkt daneben ein großer Weg für Fußgänger und Fahrradfahrer zur Uni-Mensa und zum alten Eishockey-Stadion führt. Kimskis Augen weiten sich, als sie direkt unter dem Gebäude stehen und himmelwärts blicken.
»Ist schon komisch«, sagt er schließlich. »Da sieht man dieses Bauwerk jahrelang, wenn man den Stadtring entlangfährt, aber eigentlich nimmt man es gar nicht wahr. Jetzt stehe ich zum ersten Mal in meinem Leben direkt davor, obwohl ich in dieser Stadt aufgewachsen bin, und mir bleibt die Luft weg.«
»Imposant, oder?«
Kimski nickt stumm.
»So ist es mit den Spuren der Vergangenheit. Man übersieht sie.«
Sie schweigen einen Moment. Eva sieht sich um.
»Kommen Sie«, sagt sie. »Ich bin mir sicher, dass auf dem Gemälde ein Raum in der Sternwarte dargestellt wurde. Im letzten Kapitel des Krähenbuches steht Carl Theodor doch als alter Mann auf dem Dach der Sternwarte und denkt über sein Leben nach.«
Kimski sieht sich um. Zu dem schmalen Weg hin steht ein riesiges Eingangsportal. Er geht weiter. Hinter dem Gebäude befindet sich ein kleiner Hof mit ein paar Mülltonnen. Auch auf dieser Seite des Turms befindet sich eine kleine Tür. Er sieht auf. Das Fenster im ersten Stock scheint beschädigt zu sein, denn es ist provisorisch mit weißen Klebebandstreifen gesichert. Kimski bemerkt, dass alle Fenster, die er von seiner Position aus sehen kann, von innen mit schwarzen Stoffbahnen abgehängt sind.
Kimski umrundet den Turm. Auf der gegenüberliegenden Seite findet er eine dritte Tür. Er legt seine linke Hand auf die Klinke und drückt sie langsam nach unten. Quietschend gibt sie nach und das Portal springt einen Spalt auf.
»Dann sehen wir uns den Turm mal von innen an«, sagt er leise zu Eva. Sie kommt zu ihm gelaufen. Er tastet mit seiner Rechten nach der Waffe unter seinem Jackett und drückt die Tür auf. Ein kalter Hauch weht ihm entgegen, als er einen Schritt über die Schwelle in das dunkle Treppenhaus setzt. Den Sensor des Bewegungsmelders, der am Türrahmen angebracht ist, bemerkt er nicht.
36
Durch einen dünnen Draht wird ein Impuls an einen tragbaren Computer gesendet. Wenige Sekunden später erhält Frank eine SMS auf seinem Handy. Er weiß sofort, worum es sich handelt, lässt das, woran er gerade arbeitet, stehen und bricht auf. Zur selben Zeit erhält der Entführer im obersten Stock des Observatoriums eine Textnachricht, knebelt den Oberbürgermeister und holt seinen Revolver.
Kimski arbeitet
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