Die Patin
Betrachters statt als aus der Perspektive der Kanzlerin. Sie beginnt den Ausstieg aus dieser Konstellation am Tag des Wahlsiegs. Die Hast, mit der ein Koalitionsvertrag zusammengeschraubt und präsentiert wurde, lässt ja nicht auf besondere Sorgfalt schließen, wie man sie von «Wunschpartnern» erwartet. Die Kanzlerin brauchte diesen Vertrag am wenigsten; ihr Plan für die Agonie des kleinen Stimmenlieferanten stand schon vor der Wahl. Nicht einmal ein «Moratorium» wurde der FDP verordnet; sie lief arglos in ihre tiefste Krise – an der Seite jener politischen Kraft, zu der sie in den Augen von Millionen Wählern am besten passte. Deutschland erwartete, endlich noch einmal, eine Politik aus einem Guss. Was die Deutschen bekamen, war eine Politik aus einer Hand. Die Aussteigerin trat den Beweis an, dass auch die klassischen Konstellationen der untergehenden Bundesrepublik kein Erfolgsmodell mehr sein können, solange sie an der Macht ist. 138
Die FDP nimmt das Niegesehene nicht wahr: eine Koalitionschefin, die auch das gemeinsame Thema Steuersenkungen, ein Markenzeichen der FDP, ihrerseits nun gar nicht mehr verfolgen will. Die Schweigerin Angela Merkel nimmt das Thema aber keineswegs von der Tagesordnung; sie hindert niemanden an der Vermutung, dass vielleicht doch der Tag kommen wird, an dem sie plötzlich zu den Steuersenkern zurückkehrt. Je nachdem wie die Sterne stehen im politischen Geschäft, bleibt das möglich. Generell gilt die Formel «Alles ist möglich», und sie gilt für jedes Thema, das die Kanzlerin anfasst. Ihre Regierungspartner aus der kleinen gelben Nische werden das erst gegen Ende der gemeinsamen Regierungszeit begreifen – zu spät, um noch gleichwertig mitzuspielen.
Wenn der Ausstieg aus Verbindlichkeiten zum Führungsprogramm wird, müssten eigentlich die Liberalen ebenso heftig protestieren wie CDU, SPD und Grüne. Die Liberalen wagen in den ersten schwarz-gelben Regierungsjahren kaum einen Zwischenruf, weil sie dazugehören wollen. In der CDU entsteht ein Korrekturzirkel wie der «Berliner Kreis»;die SPD versucht, links an Boden zu gewinnen, während die CDU SPDErbhöfe besetzt. Die Grünen bekommen ein eigenes Festival der Enteignung, von dem sie noch nichts wissen, als Schwarz-Gelb startet. Auch die grüne Themenübernahme durch die Kanzlerin ist für die Partei ein Ausstieg aus ihren Heiligtümern. Der Phantomschmerz stellt sich später ein, wenn das ungläubige Staunen über den brachialen Sturz der Energiegesetze im Kanzlerauftrag überwunden sein wird.
Das Geheimnis der Kanzlerin sind Ausstiege in Serie. Nimmt man Guttenberg und Kundus, Libyen und die drei Präsidentenstories hinzu, dann stellt sich die Regierung als ein Entsorgungsunternehmen für Werteund Normengeschichte dar. Wäre sie nicht eine Schweigerin, würde die Kanzlerin sagen: Höchste Zeit. Bindung knechtet. Das gilt verschärft für Wertkonzepte.
Wer Bindungen umschifft, hat auf den ersten Blick einen Führungsvorteil, den die Kanzlerin innen- wie außenpolitisch nutzt: Neutralität. Innenpolitisch ist Merkels Bindungslosigkeit das Konzept für immer mehr Allparteien-Akzeptanz. Die Häufung von Allparteien-Entscheidungen wirkt wie ein Trainingsprogramm für Zentralismus. Außenpolitisch ist Neutralismus nicht automatisch ein Powertrip. Die Kanzlerin weiß, dass sie international stets so viele Fragen offen lassen muss, dass man sie für mächtig genug hält, eines Tages mit der Lösung aufzutrumpfen. Sie lässt viel Spielraum für Deutungen, da sie im internationalen Kreis der Staatschefs nicht wie daheim Gemeinsamkeit verordnen kann. Keiner aus dem europäischen Kollegium der Staatschefs verwendet so viel Energie auf die Kunst der Verlangsamung von Meinungsbildungsprozessen; niemand hütet die eigene Unleserlichkeit so entschieden wie die deutsche Regierungschefin. Aber niemand folgert daraus, dass sie keine Meinung zu den Dingen habe. Um dieser Vermutung entgegenzutreten, trifft sie sich lieber einmal mehr mit dem französischen Staatspräsidenten: Angela Merkel ist eine Meisterin der symbolischen Politik. Warum fragt nie jemand, ob sie eine Europäerin ist? Weil alle es so genau wissen? Was wissen? Dass sie eine ist – oder dass sie keine Europäerin ist? Nicht weil alle sicher sind, wo sie steht, fragt niemand. Der einzige Grund nicht zu fragen: Die Frage ist verboten. Kaum jemand realisiertnoch, wie vieles wir NICHT über diese Kanzlerin wissen. Keiner bringt zur Sprache, wie WENIG wir über sie
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