Die Patin
verteidigen: Zusatzbeiträge an die Krankenkassen, die Merkel 2006 mit der sozialdemokratischen Ministerin Ulla Schmidt durchgesetzt hatte, und die Kopfprämie, vormals Kopfpauschale, die Merkel vehement verteidigt hatte, lehnt die schwarzgelbe Kanzlerin plötzlich entschieden ab. Der liberale Minister, mit der Weiterführung ihres Konzepts vermeintlich auf Regierungslinie, kriegt die Narrenkappe.
Im System M gehen die Volten der Kanzlerin immer zu Lasten anderer. Vorwarnungen oder Begründungen für Positionswechsel gibt es nicht. Was Merkels Sprache verrät, schlägt so in Handlung um: Ihr Undercover -Stil ist autoritär. Die häufig dilettantisch wirkende Sprachmaske ist die perfekte Tarnung. 141 Die FDP erlebt das in dieser Koalition öfter: Die Chefin hat die gültige Position verlassen und überrascht den braven Minister mit harscher Kritik. So gelingen auch Kehrtwenden zu Entscheidungen der Großen Koalition auf dem Rücken der begossenen Pudel aus der FDP.
Zwei Minister der FDP sind schon zu Beginn für das Konzept situative Zermürbung qualifiziert: der Wirtschaftsminister als Steuernsenker und der Gesundheitsminister als geprellter Vollstrecker Merkelscher Projekte mit unerwartet niedriger Halbwertzeit. Minister Brüderle, das wird Merkel noch erfahren, ist der stärkste Liberale in der noch ahnungslosen FDP-Crew, die zu lange braucht, um zu verstehen, dass sie als Ganze aufder Abschussliste steht. Da kommt es auf die falsche Ressortwahl des Außenministers und Vizekanzlers fast nicht mehr an. Auch Guido Westerwelle, der damalige Parteivorsitzende, hat das System nicht begriffen: Gemeinsamkeiten der Vergangenheit, wie die Kandidatenkür Horst Köhlers, die «geistig-politische Wende», ein Wahlversprechen, die Westerwelle beschwört, sind für die Angela Merkel des Jahres 2010 geschmolzener Schnee von gestern.
Wenn FDP-Minister mit Botschaften, die sie gutgläubig von der Chefin übernommen haben, voll ins Sperrfeuer der Kanzlerin laufen, dann wäre das Fazit fällig: Die Kanzlerin schreibt eine andere Story – eine nie gesehene parteienübergreifende Story, in der die Liberalen nicht mehr vorkommen.
Merkel setzt auf Entschleunigung, um ihre Partner möglichst lange im Unklaren zu lassen, wohin die Reise geht. Die großen kontroversen Themen will sie für mögliche spätere Allianzen offenhalten – Beispiel Gesundheitspolitik: Schon im März 2010, die Koalition ist gerade einmal ein Vierteljahr jung, sagt sie der Presse, man plane ja nur bis 2013, es sei durchaus nicht notwendig, jetzt schon Differenzen, «die es mit der FDP-Programmatik auf lange Frist gibt, aufzulösen». 142 Keiner hört genau hin: «Auf lange Frist» sei die FDP ohnehin nicht mehr auf ihrer Rechnung, sagt die Kanzlerin damit. Die Entschleunigung ist ein taktischer Zug der Kanzlerin, den sie auch in der Euro-Diplomatie immer dann nutzt, wenn sie nicht als Entscheiderin auftreten möchte, sondern Entwicklungen abwarten will. Das ist meist der Fall.
Dieser Schachzug ist die gut getarnte Flucht aus der Verantwortung. Er steht im System M auf einem hohen Rang: keine lesbare Spur zeichnen, um immer und überall mit wem auch immer neu anfangen zu können.
Ein Jahr nach der Wahl greift die Kanzlerin zur moralischen Keule, um ein zentrales Wahlversprechen aus dem Koalitionsvertrag zu kippen: Es gebe «weiterhin keine Spielräume für Steuersenkungen», sagt sie dem Spiegel und erstickt jeden Verweis auf Vertragstreue mit einem Griff ins ethische Waffenarsenal, das sie nur in taktischen Grenzsituationeneinsetzt: «Gesetzlich und moralisch» sei jetzt der Schuldenabbau «Pflicht». 143
Dieselbe Einflugschneise wird sie wählen, wenn es wenige Monate später um Vertragsbrüche dramatischen Ausmaßes geht: beim Generalangriff auf die gesamte Energie-Industrie Deutschlands. Ethos und Moral, das weiß die Kanzlerin, sind todsichere Waffen um «die andern», die von gestern, in jedes Boot zu zwingen.
In Merkels Welt ist immer alles nach allem möglich. Acht Monate Lebensdauer müssen reichen für die «moralische Pflicht», die Steuern nicht zu senken. Im Juni 2011 sind sie plötzlich wieder da, die Steuersenkungen. Merkels Politikstil ‹offen lassen – hoffen lassen› mischt sich nun mit FDP-Chef Röslers Siegesnachricht, er habe der Kanzlerin die Zusage abgerungen – für was und für wann, bleibt offen. Alle sind beschäftigt und keiner weiß Bescheid – außer einer, und die schweigt. Was sie morgen von dem Steuerthema hält, kann
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