Die Patin
wissen.
Da sie die Mehrzahl der Normen und ethischen Comments entkräftet, mit denen wir zu leben gewohnt waren – da sie eine Virtuosin für Ausstiege ist –, wer will wissen, dass sie nicht auch Europa als ein Ausstiegsszenario sieht und sich genau darauf die ganze Zeit vorbereitet?
Die Kanzlerin sieht eine multilaterale Weltordnung heraufziehen und zieht ihre Konsequenzen bis in die Innenpolitik: Politikreviere im Kleinen, die von Parteien verteidigt werden, könnte sie für nicht mehr zeitgemäß halten. Wo das Stimmengewirr immer vieldeutiger wird, steigen Opportunismus und Relativismus auf die Positionen, die früher von klassischen Tugenden wie Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit und Mut besetzt waren. Neutralismus ist dann die adäquate Warteposition so lange, bis die Kräfte sich neu ordnen und die Machtoptionen zum Zugreifen lokken.
Ist die Kanzlerin, während die europäischen Völker an ihrem informellen Königsthron basteln, in Wahrheit schon wieder ausgestiegen? Hat sie ein Kerneuropa im Blick, das auch ihr innenpolitisches Konzept der Allparteien-Regierung abrundet?
Wer will bestreiten, dass das möglich ist? Im Lande Merkel ist alles möglich.
Der gefährlichste Gegner für das System: die Liberalen
Ob Schwarz-Gelb jemals die Wunschkoalition von Angela Merkel war, darf bezweifelt werden. Zuviel spricht dagegen, aber: Sehr viel spricht dafür, dass die Kanzlerin genau diesen Partner für den geeignetsten hielt, um ihr System zu konsolidieren und zu perfektionieren.
«Ideal» war der Partner FDP zunächst wegen der öffentlichen Erwartung: Tausende Wähler aus allen Lagern gaben erstmals der FDP ihre Stimme, um die vermeintliche Idealkombination zu ermöglichen. Die beiden Parteien, so der erklärte Wählerwille, sollten zusammen regieren. Mit soviel Rückenwind aus arglosen Hoffnungen und Vertrauensvorschusskonnte die Kanzlerin auf hohe Duldsamkeit der Wähler rechnen, die in der nun startenden Koalition ihr Werk sahen. Den Koalitionsvertrag so eilig zusammenzuschustern wie es dann geschah, hatte kein Wählerwille verlangt. Der bald einsetzende Kampf der FDP um die dort festgeschriebenen Versprechen beweist, wie ungebunden die CDU-Chefin sich neben und jenseits dieses Vertrags zu bewegen gedachte.
Die Kombination Schwarz-Gelb, so das Projekt der Kanzlerin, war schon am Start ein Auslaufmodell. Aber die Zeit, die Wähler das entdekken zu lassen, war noch nicht reif. Wieder einmal war die Schweigerin Merkel mit der Aussteigerin im Bund: Merkels Geheimnis, die traditionellen Allianzen aufzulösen, begleitete auch diesen Aufbruch in eine bürgerlich-liberale Phase, von der sich die Wirtschaft und der Mittelstand Wirtschafts- und Wettbewerbsfreundlichkeit versprachen.
Im Schutz dieses Wählervertrauens gingen zwei Parteien an den Start, deren Abgeordnete dem Zusammenwirken aus jahrzehntelanger wechselseitiger Kenntnis optimistisch entgegensahen. Dass die Regierungschefin diese Koalition nur als ein Werkzeug sah, das sich in vier Jahren durch tiefe Schleifspuren selbst aus dem Verkehr ziehen würde, ahnte 2009 niemand. Dass der kleine Partner seine Attraktivität in den vier Regierungsjahren für lange Zeit verlieren würde, scheint in einem Verwendungsplan für diese Partnerschaft vorgezeichnet.
Die Kanzlerin bevorzugt multifunktionale Entscheidungen. Auch diese politische Partnerschaft mit den Liberalen erschien optimal aus einer weiteren Perspektive, die für die Taktikerin Angela Merkel von größtem Interesse sein musste. Liberale Politik als natürliche Ergänzung der marktwirtschaftlichen CDU-Konzepte hatte die junge Testfahrerin Merkel im Themenpark der West-CDU vorgefunden. Ihre kurze Ludwig-Erhard-Phase inklusive des Testläufers «Neue Soziale Marktwirtschaft» lag bei der Wahl 2009 weiter hinter ihr als jeder ihrer politischen Kollegen ahnte.
Das liberale Element war für Merkel keine Zukunftsoption mehr, seit sie – in der Großen Koalition – ein ganz anderes Projekt begonnen hatte: mehrheitsverdächtige Themen der Sozialdemokraten und der Grünen enteignen und mit CDU-Label in den Wählermarkt schicken.
Die liberale Idee war und ist in diesem Sinne nicht mehrheitsverdächtig. Als Idee in Wählerköpfen war sie für diese eine Wahl 2009 ein praktisches Begleitboot, da sie Wählerprozente brachte, die der CDU/ CSU fehlten. Gleichzeitig konnte die Kanzlerin sicher sein: So stark würde die Freie liberale Partei nicht bleiben.
Wer den Namen dieser Partei so ausschreibt: Freie
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