Die Patin
eine öffentliche Rüge gab es jedenfalls nicht. Dass ihr Amtschef «die Fresse» des Kollegen Bosbach «nicht mehr sehen» konnte, fand seine Chefin wahrscheinlich nachvollziehbar: Der Abgeordnete Bosbach hatte sein Nein zum Rettungsmanöver durch Geldtransfers angekündigt und begründet. Er wurde, auch das mag die Kanzlerin schweigend ins Kalkül gezogen haben, zu einem Prügelknaben der Chefetage, dem kaum jemand würde nacheifern wollen.
So sieht die Demokratievariante des Kanzleramtes im Jahr 2012 aus.
Korrekturen an diesem neuen Demokratiestil gibt es nur, wenn mutige Abgeordnete eine Klage nach Karlsruhe schicken, ans Bundesverfassungsgericht. Im Allparteien-Regiment, das die Kanzlerin anstrebt, wird es diese Klagen dann bald nicht mehr geben: Sie kommen in aller Regel von der Opposition.
Zwei SPD-Abgeordnete waren es, die gegen eine neue Variante der Parlamentsentmachtung Verfassungsklage anstrengten.
Schon im Jahr 2011 hatten CDU, SPD und Grüne sich geeinigt, über heikle und schwer vermittelbare Entscheidungen zur Euro-Rettung künftig ein Sondergremium von neun handverlesenen Abgeordneten abstimmen zu lassen. Damit wäre nicht nur das Parlament umgangen; auch die kritische Passage der Geldpakete durch den Haushaltsausschuss würde vermieden, Die Idee gehört logisch zu dem, was im Frühjahr 2012 versucht wurde: Auch das Rederecht im Bundestag so zu dosieren, dass nur noch Mainstream-Redner zu Wort kämen.
Das Urteil aus Karlsruhe kam am 28. Februar 2012. 199 Auch in der Schuldenkrise, so der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, AndreasVoßkuhle, dürften «verfassungsrechtlich verbürgte demokratische Spielregeln» nicht missachtet werden: «Sonst laufen wir Gefahr, der Funktionsfähigkeit des Parlaments insgesamt zu schaden.» 200
Der dritte Akt der ‹Präsidentendämmerung› lag noch nicht weit zurück; als das Urteil kam. Die verpasste ‹Kanzlermehrheit› beim zweiten Griechenland-Paket kam hinzu: Frank-Walter Steinmeier, der eher gemäßigte Fraktionschef der Sozialdemokraten, meinte, nun sei er «Zeuge geworden, wie die Bundesregierung zerfällt». 201
Der Bundestagspräsident, Norbert Lammert, gab sich als stiller Genießer des Grundsatzurteils. Er weiß, dass viele Euro-Skeptiker und Gegner der Geldverbrennungsaktionen sich durch Karlsruhe gestärkt und bestätigt sehen. Lammerts Motto, das Parlament sei «das Herz der politischen Willensbildung», war wieder einmal höchstrichterlich bestätigt worden.
Nicht lange nach der Phase der Regierungsniederlagen im Februar wagte das Handelsblatt den provokanten Aufmacher: «Die deutsche Einheitspartei» und erledigte die Nachfrage, wer denn da gemeint sei, mit einem brandroten CDU-Logo, in das sich harmonisch die Sozialistenfaust mit der roten Rose schmiegt.
Die Zeitung war schnell ausverkauft an diesem 12. März 2012. Der programmatisch vorgetragene Befund beginnt gleich auf dem Cover: Da wird der als Parlamentsanwalt so gern zitierte Norbert Lammert als Mitschwimmer im neuen Strom der sozialdemokratisierten CDU gezeigt. Schon 2010 habe er dafür plädiert, dass die «Glücklichen», die ein besonders hohes Einkommen beziehen, dem Staat einen «zusätzlichen Beitrag» schulden. Lammert sagt nicht, «die Tüchtigen», er sagt «die Glücklichen», als handle es sich um eine Art Lottospiel, das einige an die Spitze katapultiert. Und er präzisiert 2012 vor einem Auditorium von Top-Unternehmern, wie er dieses unverdiente «Glück» definiert: «Wenn es keinen Zusammenhang mehr gibt zwischen individuellen Einkommen und individueller Leistung», dann schlage die Stunde des Steuerstaates.
August Oetker und seine Unternehmerkollegen hörten sich diesen herablassenden Kommentar zu ihrem riskanten Engagement als Familienunternehmer höflich an. So sehr lange lag es gar nicht zurück, dass sie bei diesem neuen CDU-Sound ihren Ohren nicht getraut hätten. Wer Ohren und Augen offenhielt, der spürte schon seit 2005 die neue Kumpanei zwischen Rot und Schwarz: Nicht, dass die schwarzen Themen Richtung Rot gewandert wären; nein, der Projekt-Transfer lief und läuft bis heute in die umgekehrte Richtung: Schwarz annektiert rote Schlüsselthemen. So gerät seit einigen Jahren in Vergessenheit, dass die profilbildenden Themen der SPD längst fest in CDU-Hand sind; nur die Wähler der Sozialdemokraten sind nicht mitgewandert.
So verschwimmen die Parteigrenzen bei Schulreform und Mindestlohn, bei Atomwende, Frauenquote, bei Bundeswehrreform und
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