Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Manche schreiben ihr daneben noch andere Eigenschaften zu, und nimmt man sie als Tee zu sich, beschert sie wunderbare Träume.«
Auf dem Pfad lag eine dicke Schicht von vermoderndem Laub, die das Geräusch der Pferdehufe dämpfte. Dazwischen stießen sie immer wieder auf steinige Furten der zahlreichen Bäche, die den Weg kreuzten. Mittlerweile befanden sie sich tief im Wagwald und hielten sich in der groben Richtung nach Norden. Im Verlauf des Tages fühlte Maerad sich durch die Stille mehr und mehr bedrückt; obendrein unterhielten sie und Cadvan sich immer weniger. Sie musste oft an das große Tier denken, das sie in der vergangenen Nacht gehört hatten, doch nun waren weit und breit keine Anzeichen auf eine solche Kreatur zu erkennen. Das Einzige, was sie im Wald hören konnte, war Vogelgezwitscher; die Vögel selbst aber hielten sich im Geäst verborgen. Einmal vermeinte sie die rötliche Gestalt eines Rehs wieselflink zwischen den Bäumen verschwinden zu sehen, doch nur so flüchtig, dass es ebenso ein Streich ihrer Augen gewesen sein konnte. Abgesehen davon erblickte sie ringsum kein Lebewesen. Cadvan ging in Gedanken den besten Weg nach Norloch durch. Er war von der Weststraße so früh wie möglich in den Schutz des Waldes abgebogen, wodurch sie bereits jetzt vom unmittelbarsten Kurs abgekommen waren. Nun grübelte er über die Vor- und Nachteile von Heimlichkeit gegenüber Geschwindigkeit nach. Der geradeste Weg stellte zugleich den gefährlichsten dar, doch auch zu säumen barg Wagnisse. Maerads Offenbarung der vergangenen Nacht beunruhigte ihn zutiefst; in seiner Zwangslage wünschte er inbrünstig, er könnte sich der Umstände von Dernhils Tod sicher sein. Er musste eine Entscheidung treffen, welche Vorgehensweise für sie am besten war: Den Straßen nach Norloch zu folgen oder fernab von bewohnten Gebieten durch wildere Gefilde vorzustoßen. Beide Möglichkeiten boten Vorteile, aber auch Gefahren. Bis sie den Wagwald in einigen Tagen verlassen würden, brauchte er sich noch nicht zu entscheiden, danach jedoch würde die Wahl, die er traf, unwiderruflich sein.
In jener Nacht verweilten sie in einem weiteren Derenhel, aber-als an einer Felswand gelegen, in der sich eine Höhle auftat. Dies-al befand sich ein Tümpel in der Mitte der Senke. Sie hielten abwechselnd Wache, hörten jedoch nichts Bedrohliches. Am folgenden Abend schlugen sie das Lager unter einer riesigen Eiche nahe dem Pfad auf und hielten abermals Wache. Sie zündeten kein Feuer an, denn Cadvan wollte alles unterlassen, das im Wald Aufmerksamkeit erregt hätte. Maerad schlief unruhig, weil sie sich ungeschützt fühlte. Die Stille des Waldes war allmählich zermürbend. Um gegen die gedrückte Stimmung anzukämpfen, begann Cadvan, sie weiter über das Wissen und die Geheimnisse der Hohen Sprache zu unterrichten, über die Geschichte der Sieben Königreiche und des Reichs von Annar, über das Verhalten wild lebender Vögel, über die Eigenschaften von Pflanzen. Er erzählte ihr die verschiedenen Legenden darüber, wie auf dem Kontinent die Barden auftauchten, die in der Hohen Sprache Dhillarearé, das Sternenvolk, hießen. Uber ihre Herkunft, so erklärte er, herrschte Uneinigkeit. Manchmal gab er auch Balladen aus der Zeit der Großen Stille über die verzweifelten Schlachten des Lichts gegen den Namenlosen zum Besten. Er erklärte, wie sich das Licht in jener Zeit in die äußeren Gebiete zurückgezogen hatte, die nunmehr die Sieben Königreiche genannt wurden: Culain, Ileadh, Thorold, Lanorial, Amdrith, Suderain und Lirhan. Beinahe wäre es gänzlich aus Annar vertrieben worden. Die Untoten erwähnten sie überhaupt nicht mehr.
An den Abenden holten sie ihre Leiern hervor und spielten zusammen. Maerad lernte in jenen zwei Tagen, Liedern, die sie bereits auswendig kannte, auf neue Weise zu lauschen und sie neu zu verstehen - nicht nur als Geschichten, die ersonnen worden waren, um die Eintönigkeit von Winterabenden zu vertreiben, sondern als Darbietungen, in denen die uralten Geheimnisse des Weistums lebendig wurden. Nach Dernhils schrecklichem Tod und all den Ereignissen, die ihm vorangegangen waren allem, was geschehen war, seit sie Cadvan in der Feste begegnete -, war sie dankbar für den Frieden. Maerad wünschte, sie befänden sich nur auf einer Reise, nicht auf einer dringlichen Mission; sie verdrängte die Gedanken darüber, die Auserkorene zu sein, die vom Schicksal Ausersehene - all jene hochtrabenden Worte, die überhaupt
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