Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
gewöhnliche Weise, trotzdem weisen sie einen Unterschied zum Namenlosen selbst auf: Man kann sie töten. Niemand weiß, was danach mit ihnen geschieht. Sie haben Körper wie wir, doch nach mehreren Lebzeiten werden sie scheußlich anzusehen, wenngleich sie so wie wir in der Lage sind, sich zu tarnen und wie Sterbliche zu erscheinen.«
Abermals verstummte er, schien in sein Gedächtnis zu blicken und fuhr anschließend mit einer inbrünstigen Wut fort, die Maerad verdutzte. »Ich hasse sie. Sie verraten alles, was uns zu dem macht, was wir sind, und sie zerstören alles, was der Liebe wert ist. Ich hasse sie mehr als den Namenlosen selbst!« Dann nahm er sich zusammen und fuhr ruhiger fort: »Niemand weiß, wie viele von ihnen es gibt. Man glaubt, dass sich seit Menschengedenken kein Barde mehr in einen Untoten verwandelt hat, nicht seit der Großen Stille. Ich hege da meine Zweifel.«
»Was meint Ihr damit?« Maerad ergriff einen weiteren Zweig und entzündete ihn. Allmählich kroch ihr ein Gefühl des Grauens über den Rücken bis zum Hals. »Ich glaube, es gibt Untote, die wir noch nicht als solche erkannt haben«, antwortete Cadvan. »Ich habe bislang nur mit sehr wenigen über meine Befürchtungen gesprochen. Einige der Probleme in den Schulen kann man kleinen Untugenden wie Torheit und Gier zuschreiben, aber wohl nicht alle. Öfter als uns lieb ist, werden Barden von den dunklen Künsten verführt; was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass sie zu Untoten werden. Denk nur an deinen Freund Mirlad: Ich halte es für wahrscheinlich, dass er der Schule verwiesen wurde, weil er sich an den verbotenen Überlieferungen versucht hat, aber er war mit Sicherheit kein Untoter. Von Untoten erwartet man, dass sie böse aussehen, das Erscheinungsbild eines Barden hingegen stellen die Leute nicht in Frage, und doch frage ich mich manchmal… Jedenfalls, Maerad, sei vorsichtig, wem du dein Vertrauen schenkst! Falls sich in deinem Herzen Zweifel regen, hör auf sie, selbst über die Stimme der Vernunft hinweg.« Maerad schauderte und musste unwillkürlich an Usted von Desor denken. Eigentlich hatte sie ihn nur als unangenehmen Mann empfunden, aber konnte er sogar noch Schlimmeres sein? Und wie vermochte man es festzustellen ? Sie hatte Barden für frei von allem Bösen gehalten, auch wenn sie vielleicht nicht fehlerlos waren, nun jedoch schien es so, dass niemand vor dem Bösen gefeit war. Einen wirren Augenblick lang betrachtete sie Annar als größere Ausgabe von Gilmans Feste, wo man überhaupt niemandem vertrauen konnte; dann jedoch besann sie sich Silvias, Dernhils, Malgorns und Cadvans, und ihre Ängste klangen ein wenig ab.
»Warum kann der Namenlose nicht getötet werden?«, wollte sie wissen. »Er hat einen Bindungszauber geschaffen«, antwortete Cadvan. »Seit Jahrhunderten versuchen Barden, ihn zu entschlüsseln. Bekannt ist nur, dass ein solcher Bann nie zuvor und nie danach geschaffen wurde und dass dessen Macht den Namenlosen an die Erde bindet, sodass seine Seele sich nach dem Tod nicht auf die Reise durch die Tore begeben und sich stattdessen in einen anderen Körper einnisten kann. Es heißt, als er den Spruch wirkte, waren seine Qualen so gewaltig, dass sein Schrei vom Reich Indurain über die Gebirgskette des Osidh Annova bis zur Insel Thorold hallte, vom Ödland Zmarkans bis hinab zum Meer von Lamarsan. Unter den Weisen hält sich der Glaube, dass er diese Qual immer noch spürt. Denn kein menschlicher Körper vermag solcher Pein standzuhalten, und wie es scheint, nimmt er nur Gestalten an, die imstande sind, sie zu ertragen - und sie sind allesamt abscheulich und furchterregend anzusehen.«
Cadvan seufzte schwer. »Und so hielt die Große Stille Einzug in Annar. Aber ich glaube, ich habe heute Nacht bereits zu lange geredet, und wir sind beide müde. Es ist an der Zeit, dass wir uns selbst in ein wenig Stille üben.«
Maerad wickelte sich in ihre Decke und versuchte auf dem Boden eine gemütliche Stelle zu finden. Eine Weile blieb sie rastlos, während wirre Gedanken ungebeten durch ihren Geist flimmerten: Dernhils Ermordung, ihr Name, der große Rabe, der sich auf Cadvans Unterarm niederließ, die Ausersehene, die Untoten … was waren Untote eigentlich?
Nichts ergab einen Sinn, dachte sie erschöpft, überhaupt nichts. Es war wie ein böser Traum, jedoch ein Traum, aus dem es kein Erwachen gab.
In ihrem Bauch regte sich Furcht wie eine kalte Schlange.
Dreizehntes Kapitel
Elidhu
In den
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