Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
dunklen Stunden nach Mitternacht rüttelte Cadvan Maerad an der Schulter. Er drückte ihr den Zeigefinger auf den Mund, damit sie keinen Mucks von sich gab. Schlagartig war sie hellwach und setzte sich auf.
Sie lauschte und vernahm alsgleich etwas, das sich wie ein großes, durch den Wald trampelndes Tier anhörte, welches unterwegs Aste knickte. Ihrer Einschätzung nach befand es sich etwa eine Meile weit entfernt in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Cadvan hatte die schlafenden Pferde bereits mit einem Bann belegt, damit sie keine Geräusche verursachten; er selbst und Maerad verharrten lautlos, während das Getrampel sich näherte. Was immer es war, es hielt alle paar Minuten inne, als nähme es Witterung auf. Maerad tastete beklommen nach ihrem Schwert. Das Geschöpf schien ihrem Pfad zu folgen, und sie fragte sich, worum es sich handeln mochte; es schien zu groß, zu plump für einen Wolf zu sein und hörte sich nach einem einzelnen Tier an, keinem Rudel.
Es näherte sich ihnen bis auf knapp hundert Meter, dann hielt es abermals inne. Maerad konnte seinen Atem vernehmen, das rasselnde Einsaugen der Luft, zudem ein grässlich sabberndes Geräusch. Atemlos angespannt saßen sie und Cadvan völlig still. Dann sprang die Kreatur weiter, weg von der Senke. Maerad hatte das Gefühl, als strömte ihr Blut wie durch einen gebrochenen Damm jäh durch ihre Adern, und sie erschlaffte vor Erleichterung. Die beiden lauschten, wie das Wesen weiter durch den Wald trampelte und die Geräusche sich zunehmend entfernten, bis sie nicht mehr zu hören waren.
»Was war das?«, flüsterte sie, als die nächtlichen Laute des Waldes allmählich wieder einsetzten und der beängstigenden Stille die Schärfe zu nehmen begannen. »Ich weiß es nicht«, gestand Cadvan. »Vielleicht ein Goromant; es hat sich wie einer angehört.«
»Ein Goromant?«
»Ein großes, gepanzertes Tier mit einem Schwanz wie ein Skorpion. Gormorants jagen mit dem Geruchssinn und sind ungemein schwierig zu töten. Wir können von Glück reden, dass wir uns in diesem Bardenheim aufhalten; es beschützt uns.« »Wurde es … glaubt Ihr, es wurde von der Finsternis geschickt?«
Cadvan musterte sie durch die Düsternis der Nacht mit verkniffenen Augen. »Nein, das glaube ich nicht, Maerad. Es gibt viele Kreaturen, die aus einer älteren Macht als der des Namenlosen geboren wurden. Und in uralten Wäldern wie diesem leben sie noch als Überreste eines Übels aus grauer Vorzeit. Obwohl es natürlich sein könnte, dass der Namenlose sich ihrer bedient.«
»Woher wisst Ihr dann, dass es nicht von ihm geschickt wurde?«
Darauf hatte Cadvan keine Antwort. Er erwiderte nur, dass er Wache halten würde. Aufgewühlt legte Maerad sich wieder hin, doch es dauerte lange, bis sie wieder einschlafen konnte.
Am nächsten Tag standen sie im Morgengrauen auf und setzten den Weg durch den Wagwald fort. In der friedlichen Ruhe, die sie nun umgab, erschien ihnen der Vorfall der vergangenen Nacht wie ein absonderlicher Traum. Aber Cadvan zeigte ihr die Spuren des Tieres auf dem Pfad: klauenbewehrte Fußabdrücke im weichen Schlamm neben einem Bach, außerdem frisch geknickte Jungbäume und Aste. Die Abdrücke wirkten sehr tief, und Maerad schauderte beim Gedanken an das Gewicht, auf das sie hindeuteten. Die Kreatur musste gewaltig gewesen sein.
Von jedem Zweig hingen Tautropfen, die in den Lichtstrahlen funkelten, welche durch das Blätterdach einfielen. Als Maerad sich zu beiden Seiten umblickte, stellte sie fest, dass die Bäume immer dichter standen und den Wald in Schatten hüllten. Bisweilen erspähte sie in der Ferne vereinzelte Flecken von Sonnenlicht, wo eine mächtige Eiche umgestürzt war und von Efeu und Misteln überwuchert auf dem Boden lag oder wo graue Granitaufschlüsse sich unvermittelt aus dem Walduntergrund erhoben. Überall wucherte Adlerfarn, dessen zartgrüne Wedel sich durch die kupferfarbenen Rückstände des Winters schoben. In der Nähe des Pfades gediehen allerlei andere Pflanzen: Schöllkraut und Glockenblumen, Grundelreben, Grüppchen von Nachtschatten und Schierling, Dickichte aus Nesseln und Wildrosen. Cadvan erklärte sie ihr unterwegs. Einmal stieg er ab und pflückte die schlichte, sternenförmige grüne Blüte der Einbeere. »Sie wird auch Schwarzperle oder Wolfsbeere und von Barden Martagon genannt«, verriet er ihr. »Jede Blüte trägt später im Jahr eine einzelne rotschwarze Beere, die in Pulverform Heilkraft gegen Gift besitzt.
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