Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
die Stille schien noch umfassender zu sein als zuvor.
Sie weckte Cadvan und berichtete ihm, was sie vernommen hatte. Sofort drückte er ein Ohr auf den Boden. Er verharrte in dieser Haltung so lange, dass sie schon dachte, er sei wieder eingeschlafen, doch schließlich richtete er sich wieder auf. »Pferde«, verkündete er. »Eine größere Zahl, acht bis zehn, etwa fünf Meilen entfernt, und sie entfernen sich von uns. Sie haben es nicht eilig. Sonst höre ich nichts.« »Aber was ist geschehen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Cadvan. »Allerdings können wir davon ausgehen, dass es nichts Gutes war.«
Maerad spürte, wie eine Woge der Erschöpfung über ihr zusammenschwappte, und ihr wurde klar, dass sie zitterte. Der Schrecken jenes schrillen Schreies hallte noch in ihrem Geist wider. Cadvan musterte ihre Züge und sagte: »Schlafjetzt, Maerad. Bis zum Morgengrauen können wir so oder so nichts in Erfahrung bringen.« Sie wankte zum Grund der Senke, legte sich hin und starrte zu dem Steindach über ihr empor. Ein wenig Mondlicht schimmerte gräulich auf den Steinen am Rand der Niederung, abgesehen davon herrschte Schwärze vor. Nach einer Weile sank sie in einen unruhigen Schlaf, geplagt von vagen, verstörenden Träumen.
Erst, als die Sonne aufging, schlug sie die Augen auf. Cadvan hatte sie nicht für die dritte Wachschicht geweckt, sondern die Nacht durchschlafen lassen. Maerad war schlagartig hellwach, setzte sich auf und sah, dass er ein paar Schritte entfernt ein Frühstück vorbereitete. Die Pferde stampften schläfrig in der Senke umher und rupften das spärliche Gras, das sie finden konnten. Ihr Atem dampfte in der frühen Luft. »Cadvan, was macht Ihr da?«, fragte sie und ging auf ihn zu.
»Was ich mache?«, gab er zurück. »Wie meinst du das?«
»Wir müssen herausfinden, was geschehen ist. Diese, diese Leute…jemand wurde verletzt.«
»Heute Morgen brennt kein Feuer mehr«, erwiderte Cadvan. »Und ich habe die ganze Nacht nichts mehr gehört.«
Schweigend, beide tief in Gedanken versunken, aßen sie ihr Frühstück. »Wir müssen nachsehen, ob wir etwas tun können«, meinte Maerad schließlich. »Vielleicht können wir helfen.«
Cadvan spähte mit verkniffenen Augen zum Himmel empor. »Ich glaube, das lassen wir besser bleiben«, gab er zurück. »Wir würden mindestens den halben Vormittag verlieren, bis wir das Lager finden. Und wir wissen nichts über diese Leute oder warum sie angegriffen wurden. Vielleicht, für mich sogar höchstwahrscheinlich, war es eine Horde von Räubern, und wir würden mitten in ein Hornissennest stechen. Wir können uns keine Schwierigkeiten leisten.«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, entgegnete Maerad trotzig. »Jedenfalls müssen wir hinreiten und nachsehen. Unter Umständen ist noch jemand dort und verletzt.« Maerad schauderte, als sie an die vergangene Nacht zurückdachte. Sie konnte Cadvan gegenüber nicht in Worte fassen, warum sie das Lager finden musste; sie wusste nur mit unumstößlicher Sicherheit, dass es sein musste. In ihr bebte immer noch gleich den Nachschwingungen eines Glockenschlags der Widerhall jener seltsamen Sehnsucht, die sie inmitten all des Grauens gespürt hatte. Aber im Gegensatz zu einem Glockenschlag, verebbte er nicht zu Stille, sondern dröhnte lauter und lauter, bis er alles andere übertönte. »Wir müssenhm«, rief sie.
»Ich habe dir ja gesagt, ich habe die ganze Nacht nichts mehr gehört. Ich glaube, wer dort auch gewesen sein mag, ist längst verschwunden. In einem Umkreis von mehreren Meilen sind weder Hufe noch Schritte zu vernehmen.«
»Ein Grund mehr nachzusehen«, schoss Maerad zurück. »Wenn niemand mehr dort ist, besteht auch keine Gefahr.«
Cadvan musterte sie mit stetem Blick.
»Dennoch sollten wir es lassen. Das Wagnis ist zu groß, Maerad.« »Ich habe eine Frau schreien hören«, sagte Maerad. »Ich glaube, innerhalb von mehreren Meilen rings um uns ist nichts am Leben«, erwiderte Cadvan. »Und wenn doch, was können wir schon tun? Sollen wir uns jemanden auf die Satteltaschen laden? Maerad, ich sage, es geht nicht; es bringt nichts und könnte uns schaden.«
»Und ich sage, wir müssen es tun.« Maerad kauerte sich auf den Boden und kaute den harten Zwieback. »Was habt Ihr zu mir gesagt, als Ihr den kleinen Jungen geheilt habt? Manchmal gibt es Entscheidungen, die einen bitteren Nachgeschmack haben können, aber dennoch getroffen werden müssen. Genauso empfinde ich jetzt.«
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