Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Sorge um Cadvan hatte sie ihn völlig vergessen. Sie stand auf, schaute die Straße hinab und erspähte seine kleine Gestalt auf dem Boden, die Glieder durch die Wucht seines Sturzes von sich gestreckt. Zittrig ging sie auf ihn zu und fragte sich, ob er tot sein mochte. Als sie ihn umdrehte, fiel sein Kopf schlaff zurück, und einen Moment lang war Maerad überzeugt davon, dass kein Leben mehr in ihm steckte; dennoch presste sie das Ohr an seine Brust - und hörte sein Herz matt schlagen. Sie schüttelte ihn behutsam, und zu ihrer Erleichterung schlug der Junge die Augen auf. Er schaute in ihr Gesicht auf; seine Augen weiteten sich vor Furcht, und er krümmte sich von ihr weg.
»Nein, Hem, es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Die Untoten sind alle tot. Alle sind weg.« Unwillkürlich quollen ihr Tränen aus den Augen. »Wo sind sie hin?«, fragte der Junge matt. Dann setzte er sich auf. »Du lügst«, murmelte er. »Man kann Schwarze Barden nicht töten.«
»Doch, kann man«, widersprach Maerad. »Ich habe es gerade getan.«
Hem starrte sie ungläubig an, dann blickte er die Straße hinab. Es war zu dunkel, um etwas deutlich zu erkennen, aber hinter Darsor lagen tatsächlich verschwommene Schemen auf dem Boden; die Leichen der Untoten und ihrer Rössen Er richtete die Augen wieder auf Maerad und glotzte sie verwundert an.
»Was ist mit Cadvan?«, wollte er wissen.
»Er ist ohnmächtig«, antwortete Maerad. »Die Untoten haben ihn verwundet.« Wieder stellte sie fest, dass sie weinte, und wischte die Tränen ungeduldig fort. »Wir müssen hier weg. Und ich weiß nicht, wo Imi ist. Sie ist ausgerissen. Kannst du laufen?« Mühsam rappelte Hem sich auf. »Ja«, erwiderte er schließlich.
»Du musst mir helfen«, forderte Maerad ihn auf. »Ich kann Cadvan nicht allein hochheben.«
Gemeinsam kehrten sie zu Cadvan und Darsor zurück. Das Pferd sah sie fragend an. »Wir werden Cadvan auf dich heben«, erklärte Maerad in der Sprache. »Kannst du uns helfen?«
Ich werde mich hinknien, gab das Pferd zurück. Und ihr werdet ihn festhalten müssen, damit er nicht fällt.
Cadvan war schwer und zudem totes Gewicht; obwohl Darsor kniete, dauerte es eine ganze Weile, ihn auf den Rücken des Tieres zu hieven. Maerad biss sich auf die Lippe und fürchtete die ganze Zeit, sie könnte ihn noch mehr verletzen. Sie legten ihn quer über den Sattel; der Kopf hing zur einen Seite hinab, die Beine baumelten auf der anderen. Dann mühte sich Darsor auf. Maerad hob Arnost auf und war unsicher, was sie mit der Waffe tun sollte. Letzten Endes fand sie Cadvans Scheide und steckte das Schwert zurück.
Anschließend setzten sie sich langsam die Straße entlang in Bewegung, Maerad auf einer Seite und Hem auf der anderen. Als sie die Untoten passierten, wandte Maerad das Gesicht ab, um sie nicht sehen zu müssen; auch so wusste sie, dass alle tot waren, mehr zu erfahren war nicht nötig. Hem hingegen starrte auf die gestaltlosen Mäntel und die verstreuten Gebeine. Nachdem sie daran vorüber waren, blickte er mehrfach über die Schulter zurück, als könnte er nicht glauben, dass so etwas möglich war. Von den Werwesen entdeckten sie keine Spur. Binnen weniger als einer halben Stunde erspähte Maerad am anderen Ende der Schlucht den grauen Nachthimmel vor ihnen. Dann gelangten sie endlich auf die freien Höhenzüge hinaus, und ein frischer Wind blies ihnen ins Gesicht. Der Mond versank hinter Wolkenbänken, und Maerad glaubte, dass es nicht mehr lange bis zum Morgengrauen dauern würde. Sie war sehr müde, spürte aber auch eine neue Entschlossenheit in den Beinen und dachte, sie könnte die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag weitermarschieren, wenn es sein musste, ganz gleich, wie erschöpft sie war. Als sie etwa eine Meile die Straße hinab zurückgelegt hatten, blieb sie stehen. Behutsam hoben sie und Hem Cadvan von Darsors Rücken und legten ihn ins Gras. Auch sein Bündel nahmen sie dem Pferd ab. Maerad fand darin eine Weste, die sie als Kissen verwendete. Als sie Cadvans Kopf darauf bettete, erkannte sie mit einem jähen Anflug von Angst, dass sein Antlitz blasser zu werden schien, und vermeinte schon, er läge im Sterben. Dann jedoch wurde ihr klar, dass es am beginnenden Morgengrauen lag, das die ersten Vorboten in die Gefilde der Nacht entsandte und die Höhenzüge zu einem fahlen Grau erhellte.
»Darsor«, sagte sie, »Imi ist weggerannt.«
Man kann niemandem einen Vorwurf daraus machen, angesichts solcher Feinde von
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