Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
eindringlich. Pflichtschuldig durchforstete sie ihr Gedächtnis und überlegte dabei, was ihn beunruhigen mochte.
»Er… er war groß. Und er hatte langes schwarzes Haar. Ich glaube, seine Augen waren grau … oder blau … ich kann mich nicht erinnern …« Sie schob sich das Haar aus dem Gesicht und ließ den Blick über die verwaisten Höhenzüge wandern. Ihr Blut geriet vor Erwartung schmerzlich in Wallung. »Warum?«
»Hast du gewusst, dass Dorn den Pilanel angehörte?«
»Den Pilanel? Nein, ich …« Sie sah erst Cadvan, dann Hem an, und ihr Herzschlag stockte.
Cadvan durchbohrte sie immer noch mit jenem eigenartigen Blick. »Maerad, hast du gesehen, wie dein Bruder getötet wurde?«
»Alle wurden getötet«, gab sie zurück und begann, erste Anzeichen von Panik zu verspüren. »Alle außer mir und Milana.«
»Aber hast du tatsächlich gesehen, wie Cai getötet wurde?« »N-nein …« Qualvoll rang Maerad die Hände. »Nein, ich habe nicht gesehen, wie er … starb …« Cadvan reichte ihr das Medaillon.
Sie hielt es in der Handfläche und rieb mit den Fingern darüber. Zunächst schien es sich um nichts Besonderes zu handeln, da es so schmutzig war. Als sie jedoch genauer hinsah, erkannte sie das kunstvolle Zeichen einer Blume: einer Lilie. Eines Arumkelchs. Es war dieselbe Lilie, ja sogar dasselbe Zeichen wie auf ihrer Brosche. »Das ist die Lilie von Pellinor, Maerad«, sagte Cadvan leise. »Dies ist ein uraltes Stück, ein Erbstück. Die Zeichen der Schulen werden seit etwa fünfhundert Jahren nicht mehr als solche Medaillons angefertigt.«
Maerad drehte das Schmuckstück herum. Auf der Rückseite stand etwas in NelsorSchrift, doch in ihrer Aufregung vermochte sie nicht, es zu lesen.
»Was steht da?«, flüsterte sie.
»Hier steht: Ardrost Kami. Minelm le carae.«
»Das Haus Karn. Minelm hat mich geschaffen.« Maerad kauerte sich mit ausdrucksloser Miene auf die Hacken zurück. »Das Haus Karn.«
»Kann ich es zurückhaben?« Hem streckte die Hand danach aus. »Seid ihr fertig damit? Es gehört mir.«
Aus ihrer Grübelei gerissen streckte Maerad ihm unwillkürlich die Hand entgegen. »Was ist denn los?«, wollte der Junge wissen.
»Das Haus Karn ist mein Haus, Hem«, erwiderte Maerad. Sie starrte ihn an. Ihre Gedanken rasten so schnell dahin, dass sie kaum einen einzelnen davon zu fassen vermochte.
»Und? Es ist mein Medaillon.« Damit riss er es ihr aus der Hand und steckte es zurück in den Beutel. »Es gehört mir.«
»Ja, es gehört dir«, bestätigte Maerad und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Aber mir auch. Verstehst du, das Haus Karn ist meine Familie.« Verdutzt glotzte Hem sie an.
Cadvan hatte den Wortwechsel schweigend beobachtet. »Ihr habt beide dieselben Augen«, stellte er fest. »Wenn man es weiß, ist es einfach zu erkennen.« Er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ich wünschte, ich wäre nicht so angeschlagen und so erschöpft. Ich glaube, jetzt sehe ich es.«
»Was seht Ihr?« Hems Züge wirkten verkniffen und blass. Sein Arger ging in Verwirrung über. »Spielt Ihr mir etwa einen Streich?« Einen Lidschlag lang zitterte seine Miene, als würde er gleich weinen, dann drückte er wie ein kleiner Junge die Fäuste gegen die Augen. Maerad wollte ihn umarmen, wie sie es wie selbstverständlich getan hatte, seit sie ihn gefunden hatten, doch eine eigenartige Scheu hemmte sie. Eine Weile saßen alle drei schweigend da.
»Niemand spielt dir Streiche«, sagte Cadvan schließlich. »Ich denke, du könntest Maerads Bruder sein. Du bist im richtigen Alter. Und es würde erklären, weshalb die Untoten dich haben wollten. Sie könnten dich nach der Plünderung Pellinors mitgenommen haben.«
Maerad löste sich aus ihrer Benommenheit. »Deshalb musste ich in der Valverras unbedingt hin. Ich musste einfach.« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Verblüffung abzuschütteln. »Hem, ich weiß, dass es stimmt. Das bedeutet, dass du mein Bruder bist und Hem gar nicht dein Name ist. Dein richtiger Name ist Cai.« Immer noch starrte sie ihn an. »Ich dachte, du wärst tot.«
Maerad wusste nicht, was genau sie empfand; Ungläubigkeit, Wut, Freude, Verzückung, Kummer wirbelten bunt gemischt in ihr umher. Cadvans Miene wirkte verkniffen, und Maerad fiel jäh ein, dass er verletzt war. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen.
»Und ich habe gerätselt«, meldete Cadvan sich letztlich wieder zu Wort, »weshalb ich zwei Bardenkinder unter solchen
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