Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
stimmt. Hem ist dein Bruder«, verkündete er und suchte ihren Blick. »Ich bin sehr froh, dass Hem dem Seelenblick zugestimmt hat. So bin ich mir viel sicherer. Und je sicherer wir in diesen zweifelhaften Zeiten sein können, desto besser.« Er tastete hinter sich nach einem Stuhl, setzte sich und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich bin nicht mehr so jung, wie ich mal war«, seufzte er. »In die Seele eines anderen Menschen zu blicken, ist ein anstrengendes Unterfangen. Ich kann gut nachvollziehen weshalb Cadvan es bei Hem nicht tun wollte. In ihm verbergen sich allerlei Qualen.« Abermals seufzte er tief.
Maerad stand verlegen vor den beiden und fühlte sich wie ein Eindringling. »Kann ich Euch etwas holen?«, fragte sie schließlich. »Vielleicht etwas zu trinken?« Nelac lächelte matt. »Ein Glas Laradhel wäre mir höchst willkommen, vielen Dank, Maerad.«
Mit einem Gefühl der Erleichterung verließ Maerad das Zimmer. Sie brachte zwei Gläser Laradhel und reichte eines davon Hem. Dann ließ sie ihn und Nelac allein. Es fühlte sich nicht richtig an, bei ihnen zu verweilen.
Beim Abendessen in jener Nacht fehlte Hem. Er hatte sich nach dem Seelenblick in sein Zimmer zurückgezogen und war seither nicht mehr aufgetaucht. Saliman zog eine Augenbraue hoch. »Er muss wirklich müde sein, wenn er eine Mahlzeit auslässt«, meinte er. »Cadvan hat mir erzählt, der Seelenblick sei gut verlaufen.« »Ja, er hat alles bestätigt, was wir heute besprochen haben«, antwortete Nelac knapp. »Jetzt bestehen keine Zweifel mehr.« Maerad fand, dass er immer noch erschöpft aussah.
Danach gab Nelac bekannt, dass er für den Nachmittag des folgenden Tages einen Rat einberufen hatte. »Enkir wollte wissen, was du denn so Wichtiges zu sagen hättest, dass dafür ein voller Rat notwendig sei«, meinte er mit einem Blick zu Cadvan. »Ich habe ihm geantwortet, du hättest Neuigkeiten aus dem Norden.«
»Das stimmt ja auch«, erwiderte Cadvan. »Zufällig sogar bedeutende Neuigkeiten.« »Außerdem habe ich angebracht, dass Saliman Botschaften vom Zirkel von Turbansk hätte, die der Erörterung durch alle Barden bedürften. Die Erlaubnis für Maerads Teilnahme zu bekommen, war etwas schwieriger. Hätte ich gesagt, dass wir ein Mädchen mitbringen wollen, hätte Enkir sich gewiss geweigert. Darum habe ich ihm nur mitgeteilt, dass Cadvan seinen Schüler mitbringen möchte. Nicht einmal er wird es wagen, sie vor dem Zirkel des Raumes zu verweisen.«
»Muss ich denn hingehen?«, fragte Maerad mit sinkendem Mut. Sie hatte gehofft, dass man sie entschuldigen würde.
»Deine Anwesenheit ist von grundlegender Bedeutung«, antwortete Nelac. »Die Barden müssen deine Gabe selbst spüren. Also ja, ich fürchte, du musst hingehen.«
Maerad verzog das Gesicht. Was sie bisher über den Obersten Zirkel von Norloch gehört hatte, gefiel ihr ganz und gar nicht.
»Das sehe ich genauso«, meldete sich Saliman zu Wort und wischte seinen Teller mit einem Stück Brot ab, das er anschließend genüsslich kaute. »Der kleinste Hinweis auf eine Verbindung mit der Elidhu, und die zweiflerischeren Barden würden sich sofort sträuben. Ich sehe auch keinen Grund, Hem zu erwähnen. Nur wir drei wissen, wer er ist, und nur in diesem Haus weiß man, dass er überhaupt hier ist. Ich denke, es würde unser Ansinnen nur schwieriger gestalten.«
»Es gibt keine Spitzel unter diesem Dach, falls du darauf anspielst«, gab Nelac zurück. »Aber ich kann nachvollziehen, worauf du hinauswillst.«
»Dass die Untoten hinter Hem her sind, stärkt uns allerdings den Rücken«, warf Cadvan ein.
»Ja, aber denkst du wirklich, sie werden dir abnehmen, dass du gleich zwei Barden von Pellinor gefunden hast?«, gab Saliman zu bedenken. »Der Kulag, der Unhold sowie der kleine Zwischenfall mit dem Landrost sollten genügen. Einige vom Zirkel könnten glauben, dass wir bereits zu dick auftragen; ihnen zu viele Wunder auf einmal aufzutischen, wäre ein Fehler. Eins nach dem anderen.«
»Und keine Erwähnung des Baumlieds?«, fragte Cadvan zweifelnd.
»Nein, besser nicht«, meinte Nelac. »Eindeutig nicht. Das kann später folgen, wenn wir beweisen können, dass Maerad die Ausersehene ist. Vorerst müssen wir uns für ihre Einführung unter diesen besonderen Umständen starkmachen. Das wird schwierig genug. Zum einen ist sie eine Frau, zum anderen besitzt sie nicht die angemessene Ausbildung.«
»Es geht um politische Interessen«, klärte Saliman Maerad auf.
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