Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
tun, und mit viel schlimmeren. Also, komm, das ist nicht die Maerad, die ich kenne!«
Maerad nickte und versuchte, tapferer auszusehen. Sie sah Cadvan ins vernarbte Gesicht: Er hatte dem Tod ins Auge geblickt und war standhaft geblieben. Im Vergleich dazu war eine Schar alter Barden nicht annähernd so furchterregend. Sie fühlte sich ein wenig gestärkt, dennoch war sie nicht in der Lage, die tiefer sitzende Beklommenheit in ihrer Brust oder das Zittern ihrer Knie zu bändigen. Wortlos und mit dem Gefühl, wie eine Verurteilte zum Schafott geführt zu werden, folgte sie Cadvan den Flur hinab. Wenn sie Nelacs Schülern über den Weg liefen, wandte sie das Gesicht ab, damit sie nicht zu grüßen brauchte.
Saliman erwartete sie unten. Gemeinsam traten sie den Weg zum Türm von Machelinor an, dem höchsten und schönsten Turm in jener Stadt hoher und schöner Türme. An dessen Fuß befand sich ein einzelnes Kuppelgebäude, die Kristallhalle von Machelinor. Sie betraten es durch breite, goldbeschlagene Türen, als die Stundenglocke hoch über ihnen läutete.
Maerad sog scharf die Luft ein, als sie in das Bauwerk eintraten. Ihr erster Eindruck war der eines blendend grellen Lichtes, eines Stroms gewaltiger Macht. Dies war der Mittelpunkt des Lichts in Norloch, in ganz Annar, und seine Kraft pulsierte in ihren Ohren, verursachte ihr Schwindelgefühle. Sie schüttelte den Kopf, um die Benommenheit abzuschütteln, und blickte sich um.
Es war die schönste Halle, die sie je gesehen hatte. Der Boden bestand aus poliertem Stein, perlweiß, rosa und schwarz. An den Rändern waren ringsum Goldrunen eingelassen. Der Scheitel der Decke war aus Kristall, zudem strömte Licht durch die hoch in den schlicht verzierten, weißen Wänden eingebauten Fenster und füllte den weitläufigen Raum mit seinen Strahlen. Entlang der Wände befanden sich schwarze Sockel, auf denen merkwürdige Statuen standen, manche eindeutig Barden, andere Gestalten von überirdischer Schönheit, die kaum menschlich zu sein schienen. Sie waren aus Bronze oder Marmor gefertigt oder aus reinem Kristall geschliffen, und alle waren mit schimmerndem Blattgold verziert, das die Lichtstrahlen funkelnd zurückwarf. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes sah Maerad eine weitere goldene Doppeltür, die mit getriebenen Reliefs geschmückt war, verschlungenen Bildnissen von zwischen Flammenbäumen tänzelnden Vögeln. Die Flügel waren geschlossen. Dahinter begann die gewundene Treppe zum Turm von Machelinor, die ohne Absätze anstieg, bis diejenigen, die sie zu ihrem höchsten Punkt erklommen, dreihundert Meter über der Ebene von Carmallachen standen. Wer den Bardenblick besaß, konnte ostwärts das gesamte Reich von Annar bis zur Osidh Annova überblicken oder sich westwärts wenden, um die endlosen Weiten des Ozeans zu betrachten. Daher sahen die Obersten Barden von Annar viel von dem, was in Annar und den Sieben Königreichen vor sich ging. Aus diesem Grund war der Turm auch unter dem Namen Dancsel, »Fernsicht«, bekannt.
Maerads Blick jedoch war auf die Mitte der Halle gerichtet, wo der Boden zu einem runden Podium anstieg, auf dem ein riesiger runder Tisch aus schwarzem Stein stand. Der Tisch und die steinernen Sitze ringsum waren völlig schlicht und wiesen keinerlei Zierwerk auf. Auf dem Tisch befanden sich Kelche aus Gold sowie eine goldene Karaffe, außerdem in der Mitte ein riesiger Naturkristall, der als einziger Gegenstand nicht von Menschenhand geformt worden war. Durch ihn fiel das Licht im Raum und brach sich in schillernden Regenbogenfarben an die Wände. In der Mitte des Kristalls schwelte ein weißes Feuer.
Maerads Beklemmung vertiefte sich, als sie zu dritt langsam auf den Tisch zuschritten. Er schien endlos weit entfernt zu sein, und ihre Füße fühlten sich bleiern an.
Um den Tisch saßen neun Gestalten. Der riesige Raum hätte sie zwergenhaft erscheinen lassen, wäre von ihnen nicht eine Macht ausgegangen, die anschwoll, je näher Maerad ihnen kam. Es waren weit weniger Personen anwesend, als Stühle zur Verfügung standen, daher saß jeder Barde für sich allein mit leeren Stühlen zu beiden Seiten. Maerad schluckte und schaute zu Cadvan; seine Züge waren unlesbar. Ihr Mund war mittlerweile völlig trocken geworden. Sie kämpfte gegen den plötzlichen, schier unwiderstehlichen Drang an, sich umzudrehen und aus der Halle, aus dem Ersten Kreis und aus Norloch insgesamt zu flüchten. Mit steten Schritten ging sie weiter.
Schließlich
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