Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
durch die Fenster strömte. Hem stand mit dem Rücken zu Nelac da und blickte hinaus in den Garten. »Mir wäre lieber, wenn Maerad dabei wäre«, sagte er. Trotz seines selbstsicheren Auftretens war Hem außerstande, die Beunruhigung in seiner Stimme zu verbergen, und Maerads Herz krümmte sich vor Mitleid. Was, wenn der Seelenblick ergäbe, dass Hem trotz allem nicht ihr Bruder war? Sie dachte, sie würde dennoch dieselben Gefühle für ihn hegen. Irgendwie gehörten sie einfach zusammen.
»Selbstverständlich werde ich dabei sein, wenn du willst«, sagte sie mit sanfter Stimme und einem Seitenblick zu Nelac, der nickte.
»Das ist nur recht und billig«, meinte er mitfühlend. »Und besser jetzt als nie. Das Warten ist in der Regel der schlimmste Teiljeder Tortur. In Ordnung, Hem?« Hem nickte trübselig und blickte drein, als würde er zu seiner Hinrichtung geführt. Nelac brachte sie in einen Raum, den Maerad zuvor noch nicht gesehen hatte und den sie für Nelacs Arbeitszimmer hielt. Es war wesentlich größer als jenes Dernhils, vom Boden bis zur Decke mit Büchern gesäumt, mit einem üppig gefärbten Teppich ausgelegt und wies auf denselben Garten wie das Wohnzimmer hinaus. In der Ecke stand eine riesige, vergoldete, zum Ebenbild eines Drachen geschnitzte Harfe, daneben ein großer Schreibtisch aus Eichenholz. Wie in jedem anderen Zimmer von Nelacs Gemächern stapelten sich auch hier überall Pergamente, Schriftrollen und Papier. Darunter erspähte Maerad seltsame Gegenstände: Figuren aus Alabaster und Jaspis, Modelle von Schiffen und Musikinstrumenten, kunstfertig aus poliertem Holz und Stein hergestellt. Dann jedoch wandte sie die Aufmerksamkeit Hem und Nelac zu. Wie es Cadvan im Irihel mit Maerad getan hatte, ersuchte Nelac Hem, sich vor ihn zu stellen, und die beiden legten sich gegenseitig die Hände auf die Schultern. Etwas erschrocken stellte Maerad fest, dass Hem beinahe so groß wie Nelac war. Hem blickte beunruhigt zu Maerad, die ihm ermutigend zuzwinkerte. Er schluckte und schaute in Nelacs Augen.
»Nun denn, Hem«, sagte Nelac in der Sprache. »Entspann dich.« Er murmelte ein paar Worte, die Maerad nicht zu hören vermochte, dann begann er, mit demselben silbrigen Licht zu schimmern wie bei der Heilung Cadvans. Diesmal wirkte es weniger grell; es war ein sanfterer Schimmer, mild wie Sternenschein. Maerad gewann den Eindruck, dass sich auch um Hem ein Schimmer bildete, allerdings sah er etwas anders aus, goldener. Ein Lichtstrahl schien ihre Augen zu verbinden, doch als sie blinzelte, war sie nicht mehr sicher, ob sie ihn wirklich sah oder ihn sich nur ob der Eindringlichkeit ihrer Blicke einbildete.
Hem schien in eine Art Dämmerzustand zu fallen; seine Augen wurden völlig leer, als nähme er nichts um ihn herum mehr wahr. Dann umklammerten seine Hände Nelacs Schultern, und einen Lidschlag lang schien er sich zu wehren; sein Gesicht erbleichte. Nelacs Züge konnte sie nicht erkennen, da er ihr den Rücken zukehrte. Maerad biss sich vor Anspannung auf die Lippe. Dann, viel früher, als sie erwartet hatte, beugte Nelac sich vor, küsste Hem auf die Stirn und ließ seine Schultern los. Hems Hände fielen von Nelac ab, als wäre er erschöpft, und das Licht in beiden erstarb.
»Gut gemacht, Hem«, lobte Nelac. »Ein Seelenblick ist eine harte Erfahrung.« Hem setzte sich unvermittelt zu Boden. Sein Gesicht war immer noch blass, aber seine Miene wirkte offener, als Maerad sie je zuvor gesehen hatte. Er schaute zu ihr auf und errötete.
»Ich habe dich gesehen«, sagte er. »Ich meine, ich habe mich an dich erinnert. Das habe ich vorher nie gekonnt. Du warst ein kleines Mädchen, aber mir bist du groß vorgekommen. Ausgesehen hast du ganz gleich.« Er stockte, und eine unerträgliche Trauer trat in seine Augen. »Vater hat mich festgehalten.« Seine Züge fielen in sich zusammen, und er bedeckte sie mit den Händen. Maerad sah, dass seine Schultern bebten. Plötzlich erkannte sie, wie wahr Nelacs Hinweis darauf gewesen war, dass ein Seelenblick eine sehr persönliche Angelegenheit sei; dies war ein Kummer, der selbst für eine Schwester zu persönlich erschien.
Sie wandte sich von Hem ab und Nelac zu. Gleichzeitig spürte sie, wie sich Erleichterung in ihr ausbreitete. Die Zweifel waren beseitigt; Hem war ohne Frage ihr Bruder. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie angespannt sie selbst deshalb gewesen war.
Nelac wirkte müde, als hätte er in Gedanken Schwerstarbeit verrichtet. »Ja, es
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