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Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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erreichte Maerad den Hohen Tisch des Obersten Zirkels von Norloch. Cadvan, Saliman und sie standen davor, während die neun Barden des Obersten Zirkels sie schweigend musterten. Maerad war überzeugt davon, dass in der völligen Stille, die den Saal erfüllte, nachdem ihre Schritte verhallt waren, ihr pochendes Herz für jeden der Anwesenden deutlich zu hören sein musste. Sie starrte auf ihre Füße und versuchte verzweifelt, ihre Gedanken zu ordnen. Es war, als ließe die durch die Kristallhalle strömende Kraft nicht zu, dass sie dachte oder sah; ihr gesamtes Bewusstsein ging im pulsierenden Herzen des Lichts auf.
    Maerad hörte, wie jemand aufstand und das Wort ergriff. Es musste sich um Enkir, den Obersten Barden, handeln. Seine Stimme ertönte frostig und klar.
    »Willkommen beim Rat des Obersten Zirkels von Norloch, Saliman von Turbansk und Cadvan von Lirigon«, sprach die Stimme. Und sie fügte mit kaum verhohlener Boshaftigkeit oder Wut hinzu: »Und wen wagst du da noch hierher, in das innerste Heiligtum des Lichtes, mitzubringen?«
    Maerad hörte, wie Cadvans Stimme selbstbewusst neben ihr erscholl.
    »Meine Herren, Barden des Obersten Zirkels, ich möchte euch meine Schülerin vorstellen, Maerad von Pellinor.«
    Als Cadvan ihren Namen aussprach, löste Maerad widerwillig den Blick von ihren Füßen und schaute auf.
    Unmittelbar vor ihr, auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches, stand ein großer, hagerer, in weiße Gewänder gekleideter Barde. Er starrte sie unverwandt an, und seine Nasenflügel waren vor Wut weiß verkniffen. Er besaß eine vorstehende Hakennase zwischen dunklen, flammenden Augen. Tiefe Linien zerfurchten die Haut zwischen Nase und Mund. Seine Stirn war hoch, weiß und ebenfalls zerfurcht. Das Antlitz zeugte von Stolz und Klugheit, aber auch von der Unerbittlichkeit eines Falken, der auf ein Kaninchen herabstößt; allerdings sprach daraus Kaltblütigkeit, wie ein Tier sie nie empfindet, und darunter spürte Maerad eine bittere Grausamkeit. So nahm Maerad erstmals Enkir wahr, den Obersten Barden von Norloch; und als ihre Augen den seinen begegneten, übermannte sie ihre Schwindligkeit. Die Knie knickten unter ihr ein, ihre Sicht wurde schwarz.
    Sie kannte jenes Gesicht. Sie hatte es schon einmal gesehen.
    Die Welt zerbarst rings um sie in Scherben, in einen Wirbelsturm verworrener Bilder. Maerad nahm weder Cadvan und Saliman wahr, die sich erschrocken über sie beugten, noch die gemurmelte Aufregung der anderen Barden.
    Die Türme von Pellinor brannten.
    Die Dunkelheit selbst schien zu brüllen. Ein Chaos aus Lärm herrschte: das Tosen der Flammen, das Krachen von zerspringendem, berstenden Stein und Holz, Gekreisch, das Klirren von Metall auf Metall. Maerad presste die Augen zu, doch das Getöse ging weiter und weiter. Sie schluchzte vor Grauen.
    Jemand trug sie. Ihre Mutter. Maerad drückte das Gesicht gegen ihre Schulter und atmete ihren warmen Duft ein, um den beißenden Gestank von Rauch und etwas anderem, Unvertrauten und viel Schlimmeren zu verdrängen, den Geruch von Blut. Sie wurde durchgerüttelt, und es schmerzte.
    »Nicht weinen, Maerad«, flüsterte ihre Mutter ihr ins Ohr. »Du bist mein tapferes Mädchen.« Sie schaute ihrer Mutter ins Gesicht, das in der Dunkelheit weißlich schimmerte. Milana fürchtete sich nicht. Ihre Züge waren mit Asche verschmiert und verkniffen vor Verzweiflung und Sorge. Aber sie fürchtete sich nicht. Sie war hart und wunderschön wie ein Diamant. Maerad rang ihre Tränen zurück.
    »Was ist mit meinem Papa geschehen?«, flüsterte sie.
    Milanas Gesicht verzog sich qualvoll. »Darüber reden wir später«, erwiderte sie. Doch Maerad wusste, was ihrem Vater widerfahren war. Sie hatte gesehen, wie er innerhalb der Mauern Pellinors niedergestreckt wurde, als die grausamen Männer mit Klingen aus Feuer und schwarzen Schwertern das Tor durchbrochen hatten.
    »Und wo ist Cai?«
    »Cai ist bei Branar«, antwortete Milana zwischen keuchenden Atemstößen. Branar war ein Freund ihres Vaters. »Wir treffen die beiden in den Linar-Höhlen. Sei tapfer, meine Kleine. Wir müssen ganz leise sein.«
    Bald rannten sie durch die äußeren Straßen von Pellinor: schmale kopfsteingepflasterte Gassen, die sich gespenstisch menschenleer präsentierten. Das Geräusch der Flammen war nun nur noch gedämpft zu vernehmen, doch sie warfen immer noch flackernde rote Schatten über sie; Pellinors höchster Turm loderte lichterloh. Die von den Wänden widerhallenden

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