Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Schritte von Milanas Füßen hörten sich zu laut an. Nach einer Weile sagte Milana: »Ich muss dich jetzt runterlassen. Meine Arme tun weh. Kannst du laufen?« Maerad nickte. Milana gab ihr die Hand, und gemeinsam liefen sie weiter. Maerads Brust fühlte sich an, als würden Messer hineingetrieben, trotzdem rannte sie.
Sie bogen und wanden sich um die Ecken, wobei Milana stets jäh innehielt und vorausspähte, ehe sie weiterliefen, aber sie sahen niemanden. Wo steckten alle? Maerad fürchtete sich mittlerweile zu sehr, um zu weinen. Milanas Hand drückte die ihre heftig. Maerad schüttelte sie, um den Griff zu lockern, aber Milana bemerkte es nicht.
Endlich erreichten sie Milanas Ziel, eine kleine, massive Tür in der Außenmauer Pellinors. Maerad hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie lag völlig unter einem Vorhang aus Efeu verborgen. Milana schob die Ranken hastig beiseite, tastete an ihrer Hüfte herum und holte einen Bund mit Eisenschlüsseln hervor. Keuchend ging sie den Bund durch und fand schließlich den richtigen Schlüssel, den sie in das Schloss steckte und mit beiden Händen drehte. Sie drückte die Riegel zurück und schob die Tür auf. Mit lautem Quietschen schwang die Pforte auf; sie zuckte zusammen und sah sich um. Niemand befand sich in der Nähe. Sie zog Maerad hindurch und drückte die Tür hinter sich zu.
Doch davor erwartete sie jemand.
»Wohin willst du denn, Milana von Pellinor?« Eine hochgewachsene Gestalt ragte in der Dunkelheit auf. Milana sog scharf die Luft ein und zog Maerad dicht zu sich. Sie hörte das Flüstern von Metall, als Milana ihr Schwert zog. Die Stimme lachte leise.
»Glaub nicht, dass eine Klinge mich verwunden könnte.«
»Enkir.« Milanas Stimme zitterte vor Erleichterung, dann richtete sie sich gerader auf, und die Dunkelheit rings um sie wurde von einem sanften silbrigen Schein erhellt, der von Milana ausging. »Was tust du hier?«
»Ich habe dich gefragt, wohin du willst«, wiederholte Enkir barsch. Maerad spähte unter dem Mantel ihrer Mutter hervor; Licht umschimmerte den Barden, sodass sie kaum mehr als die Umrisse seines in Silber getauchten Antlitzes erkennen konnte. Die Augen lagen im Dunklen, und tiefe Schatten zerfurchten seine Züge.
»Was geht dich das an?«, entgegnete Milana hitzig. »Bist du blind? Bist du taub? Weißt du nicht, was hier vor sich geht?«
»Ich dachte mir, dass du versuchen würdest, hier zu fliehen. Die geheimen Wege Pellinors sind mir nicht unbekannt.« Enkir beugte sich vor und starrte in Milanas Augen. »Ich will deinen Sohn. Sofort. Wo ist er?«
Maerad, die sich dicht an ihre Mutter schmiegte, spürte, wie Milana erstarrte. Sie antwortete nicht, aber das Licht um sie wurde heller. Milana ließ das Schwert fallen und hob die Arme. Maerad summte der Kopf. Gleich einem Aufeinanderprallen von Schwertern spürte sie, wie Enkirs und Milanas Wille sich ineinander verkeilten; die Wucht des Zusammenstoßes der beiden Kräfte jagte einen Schauder durch sie. Die Augen vor Entsetzen geweitet, wich Milana zurück.
»Also warst du es, der sie hereingelassen hat!«, rief sie heiser. »Verräterischer Narr!« Abermals streckte sie die Arme, und ein Lichtblitz traf Enkir. Einen Lidschlag lang sah es aus, als würde er fallen, doch er sammelte sich und schritt langsam, mit frostiger Miene auf sie zu.
»Nein, Milana«, gab Enkir mit einem grausamen Lächeln zurück. »Du bist hier die Närrin. All deine armseligen Bardenkräfte sind nutzlos gegen mich. Ich kann dich wie eine Ameise zerquetschen.« Erneut beugte er sich vor und zischte: »Die Tage von euch Barden sind gezählt - ihr schwafelt kindisch vom Gleichgewicht und leiert eure geistlosen Lieder. Ich habe die Zukunft gesehen, ich weiß, wie sie aussieht. Nur die mit Verstand werden überleben.«
»Du bist wahnsinnig!«, stieß Milana hervor. Doch dann packte Enkir Maerad und entriss sie so plötzlich Milanas Griff, dass ihre Fingernägel über Maerads Hand kratzten. Maerad schrie auf: Seine Finger gruben sich wie Stahl in ihren Arm. Sie spürte etwas Kaltes an der Wange und brüllte erneut. Enkir hielt ihr eine Klinge an den Hals.
»Sag mir, wo der Junge steckt«, forderte Enkir. »Oder ich schneide dem Mädchen die Kehle durch.«
»Ich weiß es nicht«, spie ihm Milana verzweifelt entgegen. »Ich weiß nicht, wo er ist.«
»Ich bin in Eile! Halte mich nicht für dumm. Du weißt, wo er ist, und ich weiß, dass er sich nicht in Pellinor befindet.« Enkir drückte die Klinge fester
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