Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
sie.
»Sprich nicht so leichtfertig über derlei Dinge!«, mahnte Cadvan sie rasch. »Wenn es sein müsste, würdest du es sehr wohl tun. Und wir müssen immer noch von diesem Berg hinuntergelangen, und das rasch, bevor es völlig dunkel wird.«
Ein schmaler Pfad führte von dem Felsvorsprung hinab und bahnte sich einen verschlungenen Weg nach unten, wobei er sich um Felsen und Schluchten herumwand, ehe er wieder jäh in die ursprüngliche Richtung zurückschwenkte. Sie hatten sich noch kaum zehn Schritte von ihrem Aussichtspunkt entfernt, als Maerad aufblickte und feststellte, dass der Höhleneingang vollkommen verschwunden war; selbst aus dieser Entfernung bezweifelte sie, dass sie ihn wieder finden könnte. Danach bedurfte der Abstieg vom Berg all ihrer Aufmerksamkeit. Das Unterfangen erwies sich als erschöpfend, und ihre Hände waren bereits zerkratzt und voller Blasen. Sie biss die Zähne zusammen und schenkte ihren Beschwerden keine Beachtung. Cadvan stellte erneut seine Fähigkeit unter Beweis, sich so zu gebaren, als wäre er soeben aus einem langen, erholsamen Schlaf erwacht und befände sich nun auf einem gemächlichen Spaziergang. Wenn er das konnte, so dachte sie bei sich, konnte sie es auch.
Einmal rutschte sie aus und schlitterte über sechs Meter einen Felshang hinab, bis sie in einem Haufen aus Kieseln und Staub am Grund einer Rinne landete. Cadvan lehnte sich über den Rand der Böschung und spähte besorgt durch das Zwielicht. Als er sah, dass sie ihm zuwinkte, grinste er und rutschte selbst hinab, um sich zu ihr zu gesellen. »Das ist zwar schneller«, meinte er, als er bei ihr ankam, »aber etwas ungemütlicher.« Damit stand er auf, wischte sich ab und spähte die Rinne entlang. »Ich denke, wir können diesem Hohlweg folgen«, meinte er. »Es ist nicht mehr weit, bis wir den eigentlichen Berg hinter uns gelassen haben. Anschließend noch ein kurzer Marsch, und dann gibt es Abendessen.«
Von da an gestaltete sich das Gehen weniger beschwerlich. Mittlerweile war es dunkel, aber die Nacht war klar, und der zunehmende Mond, der über den Horizont ragte, war hell genug, um deutliche Schatten zu werfen. Eine Weile setzten sie den Weg schweigend fort.
»Wisst Ihr, wo wir sind?«, fragte Maerad schließlich. Sie hatte das seltsame Gefühl, diese Landschaft zu kennen. Befanden sie sich womöglich in der Nähe von Pellinor? »Ja«, antwortete Cadvan und nickte. »Wir sind eine Stunde schnellen Marsches von Inneil entfernt, der östlichsten der Bardenschulen. Sie wurde vor mehreren hundert Jahren im Schatten des Annova errichtet und hat viele gute Barden hervorgebracht! Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin. Wir haben wirklich Glück gehabt; das ist besser als alles, was ich hätte vorausplanen können. Ich glaube, das Unwetter hat unsere Spuren verwischt, und ich denke nicht, dass sie noch jemand finden kann. Wären wir gezwungen gewesen, den Weg zu nehmen, den ich im Sinn hatte, hätte es schlecht mit uns enden können. Über jenes verwaiste Reich wacht nicht nur der Landrost.«
»Und was war dieser Tunnel durch den Berg?«, erkundigte sich Maerad, die beschloss, Cadvans Überschwänglichkeit zu nützen. »Habt Ihr gewusst, dass es ihn gibt?«
»Nein«, antwortete Cadvan. »Ich bin im Lauf der Jahre schon oft durch dieses Land gereist, habe aber noch nie Gerüchte oder Geschichten über einen solchen Ort gehört. Der nächste Pass durch die Berge, den ich kenne, liegt mindestens hundertachtzig Meilen von hier entfernt und verläuft durch unwegsames Gelände. Ich weiß nicht, wer diesen Ort errichtet oder vor ewigen Zeiten dort gelebt haben könnte. Es schien mir eine große Stadt zu sein; dort waren hunderte leere, vergessene, in den Fels gehauene Räume. Vermutlich ist der gesamte Berg damit durchzogen. Die Runen rings um den Eingang kannte ich nicht. Jedenfalls muss es ein sehr kluges Volk gewesen sein, das dort gelebt hat, da es den lebenden Fels so gerade durchdringen konnte. In den Stollen gab es weder Makel noch schlechte Luft. Nur wenige könnten so etwas heute vollbringen.«
Maerad war erstaunt darüber, wie unbekümmert Cadvan seine Unwissenheit gestand. Es ließ die Welt, die sie soeben betreten hatte, umso seltsamer und gefahrvoller erscheinen. Sie dachte zurück an Gilmans Feste: Noch vor wenigen Tagen hatte der Ort ihr gesamtes Lebensumfeld dargestellt, für Cadvan hingegen war er nur ein winziges, unbedeutendes Rädchen im großen Getriebe der Dinge. Und nun schien es Dinge
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