Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
zu geben, von denen selbst er nichts wusste. Der Gedanke vermittelte ihr das Gefühl, überaus klein und unwichtig zu sein, und sie stellte keine weiteren Fragen.
Der Pflanzenwuchs begann sich zu verändern; Maerad sah Haine aus Kiefern und Birken, und unter ihren Füßen wuchsen Gräser und Kräuter. Der Hang wurde flacher, und die Hügel waren von einer blühenden Wiese bedeckt, die ihre Beine nach dem Kies und den Steinen, über die sie sich bisher den Weg bahnen mussten, als Erleichterung empfanden. Cadvan wandte das Gesicht gen Süden. Zu ihrer Linken ragten die Osidh Annova gleich einem riesigen Kamm auf, der mit schwarzen Zinken die Sterne verhüllte. Der Duft von zertretenen Gräsern und Blumen, Frühlingsgeißblatt und Krokussen umgab sie, und Wildrosen zupften an ihren Mänteln. Im fahlen Mondschein wirkte die Landschaft silbrig und geheimnisvoll, doch Maerad erschien sie auf unerklärliche Weise vertraut, und sie wandelte wie in einem Traum.
Dann deutete Cadvan mit dem Arm, und Maerad erspähte in der Ferne ein Licht. »Inneil!«, rief er aus. »Und es ist erst drei Stunden nach Sonnenuntergang!« Als sie sich Inneil näherten, wurde Maerad zunehmend unruhiger. Dies war eine Bardenschule, und sie wusste rein gar nichts über solche Orte. Was würde man von ihr halten, wenn sie dort mit Haaren wie ein Vogelnest, stinkend, dreckig und unwissend eintraf? Ihre Scheu steigerte sich, je näher sie ihrem Ziel kamen, und als Maerad die Umrisse der Gebäude erkennen konnten, war ihr regelrecht übel vor Besorgnis. Stolz und edel wirkten sie in ihren Augen, die anmutig in den nächtlichen Himmel ragenden Türme mit ihren golden erhellten Fenstern hinter einer hohen Mauer aus glattem weißem Stein, der das Sternenlicht zurückwarf. Während Cadvans Schritte immer beschwingter wurden, wuchs ihr Zaudern. Viel früher, als ihr lieb war, erreichten sie die mächtigen Tore aus dickem, mit schwarzem Stahl beschlagenen Eichenholz. Cadvan legte die Hände an den Mund und brüllte:
»Lirean! Lirean noch Dhillarearé!«
Ein Fensterladen hoch über dem Tor öffnete sich, und ein Mann chaute heraus. »Lirean ? Ke sammach t«
»Cadvan Lirigon na, e Maerad Pellinor na!«, gab Cadvan zurück und zwinkerte Maerad dabei zu. Verunsichert lächelte Maerad zurück.
»Langrea i«, sagte die Stimme, woraufhin sich das Fenster geräuschvoll schloss. »Wird man mich hineinlassen?«, fragte Maerad.
»Oja, letztlich schon«, antwortete Cadvan. »Aber dieser Tage müssen sie vorsichtig sein, besonders nach Einbruch der Dunkelheit. Er ist losgegangen, um unsere Namen bekannt zu geben.«
Nach etwa fünf Minuten öffnete sich der Fensterladen wieder, und ein anderer Mann streckte den Kopf heraus.
»Cadvan?«, rief er. »Bist du das?«
»Höchstpersönlich«, erwiderte Cadvan. »Ich reise auf beschwerlichen Straßen über dunkle Wege und erbitte gemäß den alten Gesetzen der Höflichkeit Beistand von den Barden von Inneil.«
»Was treibst du in diesem Teil der Welt?«
»Malgorn!« Cadvan warf den Kopf zurück und rief hinauf: »Komm herunter und lass uns rein!«
»Und wer von Pellinor? Ich dachte, sie wären alle tot! Beim Licht! Aber warte, ich komme zum Tor.«
Damit warf er das Fenster zu, und Cadvan wandte sich Maerad zu. »Jetzt sind wir in Sicherheit«, verkündete er.
»Kennt Ihr diesen Mann?«
»Das ist Malgorn. Ich kenne ihn seit der Kindheit, und vor etwa zwanzig Jahren hat man ihn hierhergeschickt. Damals gab es in diesem Teil der Welt Schwierigkeiten, und man brauchte seine Fähigkeiten. Er ist ein guter Mann. Einer der besten.« Dann wurde das Tor aufgeschwungen, und ein stattlicher, kräftig gebauter Mann kam mit ausgebreiteten Armen heraus. »Cadvan!«, rief er und zog ihn in eine bärengleiche Umarmung. »Wie schön, dich zu sehen! Wie lange ist es her?«
»Zu lange, alter Freund«, gab Cadvan zurück. »Und ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen!«
Malgorn trat einen Schritt zurück und musterte Cadvans Gesicht. »Du siehst mir ein wenig mitgenommen aus«, stellte er fest. »Ich sehe schon, dazu gibt es eine Geschichte zu erzählen. Was hast du die ganze Zeit getrieben? Aber komm erst mal rein, komm rein.« »Das ist Maerad von Pellinor, meine Reisegefährtin«, erklärte er und wich ein wenig zurück, um sie mit einzubeziehen. »Maerad, das ist mein alter Freund Malgorn, ein Gauner und Spitzbube, dazu der schlechteste Kartenspieler in den Sieben Königreichen. Aber er hat auch seine guten
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