Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
eines Schilds oder der stillen Oberfläche eines Wassereimers hatte es in Gilmans Feste keine Spiegel gegeben. Sie konnte das Bildnis darin kaum als sie selbst erkennen; allein die leicht weißliche Linie an ihrem Hals, eine hauchdünne Narbe von einer alten Verletzung, an die sie sich nicht erinnern konnte, kam ihr vertraut vor. Plötzlich tauchte in ihrem Kopf zugleich überaus lebendig und unermesslich entfernt eine Erinnerung an das Gesicht ihrer Mutter auf, die sich über sie beugte, vermutlich, um sie zu küssen. Leicht erschrocken erkannte sie, dass sie Milana äußerst ähnlich sah. Die Erkenntnis erfüllte sie mit einem Gefühl der Einsamkeit, und als Silvia dies spürte, meinte sie rasch: »Es ist Zeit zu essen, bevor du mir wirklich zusammenbrichst. Ich bin sicher, Malgorn und Cadvan warten bereits auf uns; wir sollten uns beeilen.«
Damit ging sie die Treppe hinab voraus. Maerad folgte ihr zögerlich und sah sich dabei voll Verwunderung um. Sie fand das Haus verwirrend: Es gab zu viele Kammern, zu viele Türen, zu viele Gänge, die zu ungeahnten Zielen führten. Maerad war an Gebäude gewöhnt, die nur aus einem Raum bestanden, mit Tieren an einem Ende, Menschen am anderen und weit und breit keinen Treppen. Selbst die Große Halle in Gilmans Feste hatte aus einem einzigen Raum mit Schlafgemächern als Anbau auf einer Seite bestanden.
Schließlich erreichten sie ein kleines Esszimmer, in dem ein dunkler, mit Kerzen und feinen, schlichten Tellern gedeckter Holztisch stand. In der Mitte befanden sich Schalen, in denen sich Gemüse türmte, und ein Tablett mit reichlich aufgeschnittenem Fleisch. Plötzlich stellte Maerad fest, dass sie einen Bärenhunger hatte. Cadvan und Malgorn saßen bereits am Tisch und schauten auf, als die beiden Frauen eintraten. Einen Lidschlag lang wirkte Cadvan ein wenig verstört, und Maerad stockte, fühlte sich sofort unwohl und verunsichert in ihren neuen Kleidern, doch dann standen die Männer auf und neigten höflich die Häupter. Auch Silvia neigte zur Erwiderung den Kopf, und Maerad, die sie aus dem Augenwinkel beobachtete, tat es ihr gleich. Danach nahmen sie alle Platz.
»Rostbraten, Maerad!«, rief Cadvan aus, der sich neben sie setzte. »Hab ich’s dir nicht versprochen? Und so viele Karotten und Rüben, wie du essen kannst. Auf mein dringendes Verlangen hin haben sie sogar ein paar Pilze aufgetrieben!« Er bedachte sie mit einer großzügigen Portion, dann häufte er Essen auf den eigenen Teller. »Malgorn hat mich streng gemahnt, dass ich dich nicht zu lange wach halten darf und dass du nicht zu viel essen sollst, damit dir nicht schlecht wird. Ich habe ihm gesagt, dass ich damit nichts zu tun habe!« Er lächelte, und Maerad begann, sich ein wenig zu entspannen.
»Ich bin wirklich müde«, gestand sie. »Und jetzt ist mir auch klar, warum Ihr Bäder so sehr mögt. Aber mich hat das Baden auch schläfrig gemacht.«
»Koste mal davon«, forderte Cadvan sie auf und hob eine Glaskaraffe voll Wein so fahl wie Stroh an. »Malgorn hat uns einen guten Jahrgang ausgesucht, den dürfen wir nicht verkommen lassen. Danach wirst du schlafen wie ein Murmeltier!« Er füllte ihr Glas. Eingedenk ihrer Erfahrung mit dem Laradhel nippte sie vorsichtig daran. Zu ihrer Überraschung rann ihr der Wein leicht, erfrischend und süß über die Zunge. Danach widmete sie sich ganz dem Essen, während die anderen sich unterhielten. Weder Silvia noch Malgorn aßen. Maerad vermutete, dass sie bereits früher gespeist hatten und ihnen lediglich Gesellschaft leisten wollten. Das Essen schmeckte vorzüglich und unterschied sich wie alles an diesem wunderbaren Ort völlig von der derben Kost, die Maerad gewohnt war. Das Fleisch war mit Kräutern und Zwiebeln gefüllt und so zart geröstet, dass es ihr regelrecht auf der Zunge zerging, und die Karotten waren so süß, als wären sie mit Honig bestrichen worden. Cadvan schaute kurz zu ihr, dann nahm er sich einen Nachschlag von den Pilzen. »Die hast du noch gar nicht probiert«, stellte er fest. »Beeil dich besser, sonst sind keine mehr übrig.«
»Ich habja gesagt, dass er den ganzen Proviant gefuttert hat«, meldete Silvia sich grinsend zu Wort.
Maerad betrachtete die Pilze zweifelnd, die sich dunkel in der Schale türmten und von denen gelbliche Rinnsale geschmolzener Butter troffen. »Ich hab’s nicht so mit Pilzen«, sagte sie.
»Aber die hier kennst du noch nicht«, entgegnete Cadvan. »Versuch sie mal. Nur zum Kosten.« Er
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