Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Unsicherheit, als wäre das Eingeständnis, glücklich zu sein, gleichzeitig ein Eingeständnis von Schwäche. Sie blickte Silvia an. »Was ist ein Konklave?«
»Eine Zusammenkunft der Barden, wie du letzte Nacht gehört hast. Diese ist besonders wichtig, da sie einberufen wurde, um die künftige Vorgangsweise im nördlichen Annar zu bestimmen. Es ist eine Bardenangelegenheit und somit eine Angelegenheit des Lichts. Im Verlauf der nächsten Tage wird es Gesänge, Ansprachen und allerlei mehr geben. Zweifellos wird auch über dich gesprochen werden.« »Über mich?«
»Ja, Mädchen. Daran solltest du dich besser gewöhnen. Die Kunde von deiner Ankunft hat sich wie ein Lauffeuer in der Schule ausgebreitet. Ich habe bereits gehört, Cadvan hätte dich vor einem magischen Löwen gerettet, dich in einem Hühnerstall entdeckt oder die Verliese des Schattenkönigs betreten, sich ganz allein den Weg hinaus erkämpft und dich dabei auf den Schultern getragen. Hier gibt es viele einfallsreiche Köpfe, die in Ermangelung von Tatsachen eine aufregende Geschichte erfinden, um die Lücken zu füllen. Das ist zugleich unsere Stärke und unsere Schwäche.« Als sie Maerads Unbehagen erkannte, lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. »Aber jetzt erzähl mir von deiner Heimat. Erinnerst du dich an Pellinor?«
Unter Silvias einfühlsamer Befragung berichtete Maerad das Wenige, was sie über sich selbst und ihre Familie wusste; außerdem redete sie über ihr Leben in Gilmans Feste. Silvia lauschte aufmerksam, und ihre Miene verfinsterte sich dabei. »Wurdest du oft geschlagen?«, wollte sie wissen, als Maerad von dem Versuch erzählte, sie zu ertränken.
»Jeder wurde geschlagen. Sogar Gilmans Frau rannte meistens mit einem blauen Auge herum«, erwiderte Maerad abschätzig. »Ich bekam davon weniger ab als die meisten, weil ich so getan habe, als wäre ich eine Hexe.« Sie bedachte Silvia mit einem Seitenblick, um zu sehen, wie sie sich darob verhalten würde, doch ihr Gesichtsausdruck blieb unlesbar. »Sie fürchteten sich davor, mich allzu oft zu verprügeln, weil sie dachten, ich könnte sie verfluchen.«
»In Inneil wird niemand geschlagen«, sagte Silvia.
»Niemand?«, fragte Maerad mit offenem Mund nach.
»Niemand. Vor allem nicht Kinder. Ein Kind vorsätzlich zu verletzen gilt als Verbrechen.«
Maerad ließ sich diese Neuigkeit durch den Kopf gehen. Sie verblüffte sie. »Wie werden die Menschen dann bestraft, wenn sie dem Herrn nicht gehorchen?«, wollte sie wissen, dann fügte sie zweifelnd hinzu: »Ich nehme an, hier gibt es keinen Baron.« »Es gibt einen Vogt von Inneil, der in Tinagel lebt, einer fünf Meilen von hier entfernt gelegenen Ortschaft, und dann sind da noch die Barden«, antwortete Silvia. »Gemeinsam verwalten sie den Gau, das Gebiet um Inneil. Wir haben zwar Gesetze, aber sie werden nicht oft gebrochen. Wenn doch, folgen darauf Strafen: Ein Mensch, der beispielsweise einen anderen erschlägt, wird von einem Gericht aus Barden und Anwohnern verurteilt. Gemeinsam beschließen sie die angemessene Strafe. In der Regel handelt es sich dabei um eine Art Wiedergutmachung - so könnte er dazu verpflichtet werden, der Familie des Toten eine bestimmte Anzahl von Jahren zu dienen oder Wergeid zu bezahlen. Wenn er krank oder verrückt ist, was manchmal vorkommt, wird er behandelt. Jemand, der stiehlt, muss das Diebesgut zurückgeben. Im den schlimmsten Fällen werden die Übeltäter aus Inneil verbannt. Wir sperren hier niemanden ein.« »Aber wie soll das die Menschen von Mord und Diebstahl abhalten?«, verlangte Maerad noch erstaunter zu erfahren. »Wenn sich jemand nicht davor fürchtet, bestraft zu werden, wird er es doch einfach wieder tun, oder?«
»Manche Menschen sind dieser Auffassung. Tatsache aber ist, dass es hier sehr wenig Übeltaten gibt«, hielt Silvia dem entgegen. »Die Menschen schlafen mit unversperrten Türen in ihren Häusern. In diesem Tal hungert niemand, deshalb sind die Leute zu keinen Verzweiflungstaten gezwungen. Das Gesetz besagt, dass Hungrige ernährt, Obdachlose mit Unterkunft versorgt und Kranke geheilt werden müssen. Das ist die Gesinnung des Lichts.«
Maerad schwieg eine Weile, während sie diese neuen Vorstellungen verdaute. Nachdrücklicher als alles andere, was sie gehört oder erfahren hatte, seit sie in Inneil eingetroffen war, führte ihr dies vor Augen, dass sie tatsächlich in einer ganz anderen Welt angekommen war. Beim Gedanken an Gilmans Schergen musste
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