Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
sie sich eingestehen, dass ihr die Wirksamkeit dieser Gesinnung fragwürdig erschien, behielt ihre Zweifel jedoch für sich.
Silvia lenkte die Unterhaltung auf Musik und zeigte sich besonders neugierig, als Maerad ihr von Mirlad erzählte.
»Er hat dich unterrichtet?«, fragte sie.
»Ja, aber nur Musik«, gab Maerad zurück. »Von den Schulen, der Gabe oder der Hohen Sprache wusste ich nichts, bis Cadvan mir davon berichtete. Mirlad meinte, Lieder wären nur dazu da, die Zeit angenehmer zu vertreiben, bis der Tod alles beendete.« Ein Bild von Mirlads Gesicht stieg vor ihrem geistigen Auge auf: die falkenartige Nase, der verkniffene, von Gram oder Verbitterung gezeichnete Mund, die umwölkten, erschöpften Augen, in denen manchmal unerwartete Freundlichkeit aufschimmerte.
»Er muss ein Barde gewesen sein«, meinte Silvia. »Vielleicht ist er vom Weg abgeraten. So etwas kommt vor. Ich frage mich, woher er stammte und wie seine Geschichte aussah. Jedenfalls muss sie traurig gewesen sein. Und deine Mutter? Hat sie dich unterrichtet?«
»Sie … An viel erinnere ich mich nicht. Sie hat mir einige Lieder beigebracht. Ich war erst sieben, als sie starb.« Kurz wirkten Maerads Züge verschlossen. Silvia wartete mit angehaltenem Atem. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mir je von Pellinor erzählt hat. Aber als Cadvan mich danach gefragt hat, wusste ich es einfach. Wie kann das sein?«
»Cadvan ist ein Wahrheitsfinder«, erklärte Silvia in ernstem Tonfall. »Wie du feststellen wirst, gibt es verschiedene Arten von Barden. Solche wie Cadvan sind die seltensten, und der Pfad, dem sie folgen, ist der gefährlichste. Er kann die Wahrheit in einem Menschen zum Vorschein bringen, indem er ihn einfach danach fragt, selbst wenn derjenige nicht weiß, dass sie in ihm schlummert.«
»Ja«, pflichtete Maerad ihr nachdenklich bei. »Das leuchtet mir ein. Manchmal wirkt er schroff und abweisend. Aber er hat mich noch nie belogen.«
»Das wird er auch nicht, wenn er dich als Freundin betrachtet; obwohl er auch listig sein kann und die Kunst der Verkleidung beherrscht. Es ist schwierig, ihn richtig kennenzulernen. Das gilt übrigens für die meisten Barden.«
Beide verstummten eine Weile und beobachteten, wie die Schatten auf dem Hof länger wurden.
»Seid Ihr eine Bardin, Silvia?«, fragte Maerad unverhofft.
»Ja, das bin ich«, bestätigte Silvia. »Mein Wissen beschränkt sich vorwiegend auf Kräuterkunde und Heilkunst. Im Gegensatz zu Cadvan beschäftige ich mich nicht mit den hehren Kenntnissen über längst verstorbene Leute, die Geschichte von Annar und den Sieben Königreichen oder die großen Schlachten zwischen dem Licht und der Finsternis. Malgorn hat sich ganz der Welt der Tiere verschrieben, sowohl der von Menschen gehaltenen als auch jener der Wildnis. Kaum jemand weiß so viel wie er über die Geheimnisse der Tiere, und niemand in diesem Land kennt sich besser mit der Viehzucht aus. Das Bardentum ist vielseitig, aber all seine Facetten sind wichtig für das Leben in diesen Gefilden, und alle begegnen sich im Gesang, wodurch die verschiedenen Kenntnisse zu einer weitläufigen, feinen Musik verwoben werden, der Musik des Lebens.« Silvia schien sich Maerads Gegenwart nicht mehr bewusst zu sein und blickte in eine unergründliche Ferne. »Sie ist ein großes Geschenk, die Gabe des Bardentums«, meinte sie leise, »eine große Liebe und eine schwere Bürde zugleich. Denn alles, was uns am Herzen liegt und was wir so sehr lieben, muss letztlich sterben. Und sind unsere Gesänge nicht in Wahrheit ein Wehklagen um alles, was grün und schön ist und vergehen muss wie Schatten auf einer Ebene, die schwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen? Welches Lied, und sei es noch so erhebend, vermag diesen Schmerz zu lindern?«
Maerad nahm die tiefe Traurigkeit in Silvias Zügen wahr und fragte sich, welcher Kummer ihre Schönheit geprägt haben mochte, so zart und doch, wie sie spürte, darunter härter als Stein.
Silvia schüttelte sich leicht, lächelte und schien wieder die vergnügte, praktisch veranlagte Frau zu sein, die Maerad bereits zu lieben begonnen hatte, da ihr ausgehungertes, verschlossenes Herz unter dem sanften Druck von Silvias gütigem Lächeln allmählich aufbrach. Nun schimmerte durch Silvias Lachen eine Tiefgründigkeit wie ein harter Fels unter einer sich blendend kräuselnden Wasseroberfläche, und Maerad wunderte sich über die Vielschichtigkeit dieses Volkes. Meines Volkes, dachte sie bei
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