Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
beide hingen ihren eigenen Gedanken nach. Maerad grübelte über Norloch nach, wobei ein Gefühl der Erregung in ihr zu keimen begann. Der Hohesitz des Lichts! Wie Inneil, stellte sie sich vor, nur noch überwältigender: noch wundersamer, noch reiner… Dann fragte sie sich wieder, woran es lag, dass sie sich in Inneil so schnell heimisch gefühlt hatte. Jedenfalls war es mehr als Silvias Fürsorge, mehr als all die Schönheit, die Maerad hier umgab. Vielleicht war es auf ihre Kindheitserinnerungen zurückzuführen, die in ihr aufflammten und ihr ein Gefühl von Heimat vermittelten… und nun hatte sie sich irgendwie bereit erklärt, den Ort zu verlassen, und das just, als eine Tür sich geöffnet hatte, durch die Freude und Freundschaft lockten - denn im Gegensatz dazu verhieß das, was Cadvan ihr so offen erzählt hatte, ein Leben voller Beschwernisse. Vielleicht ist mir das ohnehin alles zu viel, all die Aufmerksamkeit, die mir zuteil wird, all die neugierigen Blicke, dachte sie erschöpft … Verstohlen spähte sie zu Cadvan. Sie hatte noch nie jemanden kennengelernt, der so sehr wie ein Einzelgänger wirkte - nun, um bei der Wahrheit zu bleiben, hatte sie überhaupt noch nicht viele Menschen kennengelernt -, aber sie vermutete, dass Cadvan es ebenfalls hasste, angestarrt zu werden. Nicht, weil er etwas verbergen wollte, sondern weil es ihn irgendwie schmerzte, als würde seine Seele dadurch verletzt. Ja, sie würde Inneil verlassen, obwohl sie den Ort bereits liebte, und sie würde Cadvan nach Norloch folgen; Maerad wusste, dass es bereits beschlossene Sache war, wenngleich sie noch keine Ahnung hatte, weshalb.
»Ich denke darüber nach«, meinte sie schließlich. Mit einem Schlag fühlte sie sich unaussprechlich müde. »Aber vorerst möchte ich mich eigentlich nur noch ausruhen. Ich sollte diese feinen Betten ausnutzen, solange ich kann!«
Cadvan bedachte sie mit einem unvermittelten strahlenden Lächeln.
»Das solltest du wohl«, antwortete er. Er beobachtete, wie sie ging, danach blieb er noch lange mit vor Gedanken düsterer Miene alleine auf dem Hof.
In jener Nacht träumte Maerad. Sie wurde in schwindelerregenden Höhen über eine weitläufige, grüne Landschaft geführt, von der sie wusste, dass es sich um das Land Annar handelte. In der Ferne entzündete die untergehende Sonne die östlichen Berge und ließ die hohen weißen Zinnen einer großen Stadt flammengleich leuchten. Zwischen den Bergen und der Stadt zog sich wie geschmolzenes Gold ein breiter Fluss dahin. Während sie hinsah, kroch ein schwarzer Nebel über das Land, verhüllte das schimmernde Wasser, und eine ungewisse Furcht erfasste ihr Herz. Leise drangen klägliche Geräusche zu ihr, als weinten viele Menschen. Dann sprach eine Stimme: »Schau nach Norden.« Sie tat, wie ihr geheißen, aber der Nebel verschleierte ihr die Sicht, und sie konnte nichts erkennen. Der Traum zerfiel in einen unruhigen Schlummer, erfüllt von verschwommenen, dunklen Schemen, die sich nach einer Weile in eine Gestalt fügten, einen Schatten, der sich ihren Augen entzog; so oft sie hinblickte, löste er sich in Rauch auf. Ihr erschien es nachgerade lebenswichtig, dass sie ihn sah, bevor er sie entdeckte, und so drehte und wand sie sich in wachsender Panik. Sie hatte das Gefühl, als griffe er bereits nach ihr, als streckten sich jenseits ihrer Wahrnehmung die tückischen Hände des Schattens in ihre Richtung, näher und näher. Dann hörte sie Worte in einer Sprache, die sie nicht verstand. Es war eine Stimme, die sie noch nie zuvor gehört hatte, die sich kalt und leblos anhörte, als käme sie von toten Lippen. Ihr Herz setzte vor Furcht aus, und plötzlich erwachte sie schwitzend und zitternd. Sie setzte sich im Bett auf und starrte wild um sich, bis sie die Überreste des Feuers im Kamin glimmen sah und ihr wieder einfiel, wo sie sich befand. Allerdings konnte sie den Traum nicht abschütteln, und so kletterte sie schließlich aus dem Bett und griff nach ihrer Leier, um das Gefühl der Angst zu bannen. Sobald sie das Instrument berührte, fühlte sie sich getröstet. Mit der Leier an sich gedrückt kehrte sie ins Bett zurück und schlief bald wieder ein. Am nächsten Morgen war der Traum verpufft, dennoch erwies der neue Tag sich als von einer namenlosen Furcht befleckt.
Neuntes Kapitel
Dernhil von Gant
Die nächsten paar Tage sah Maerad nur wenig von ihrem neuen Lehrer. Am Tag nach dem Rat klopfte Cadvan sehr früh an ihre Tür. Nachdem er ungeduldig
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