Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Schreibgerät.
»Das ist zum Schreiben, nicht zum Anstarren«, erklärte ihr Dernhil und zeigte ihr, wie sie die Feder halten musste. Sie fühlte sich schwer in ihrer Hand an. Dann begann er, Buchstaben zu schreiben und zu erklären, was sie bedeuteten und wie sie Worte bildeten.
Zunächst kam Maerad mit dem Federhalter überhaupt nicht zurecht, aber sie biss die Zähne zusammen und blieb hartnäckig. Im Verlauf des Unterrichts begann sie zu erkennen, wie das Schreiben ging, und in ihrer Magengrube machte sich freudige Erregung breit. Ihr Erinnerungsvermögen war durch das jahrelange Auswendiglernen von Liedern und Musikstücken geschult, und Dernhil entpuppte sich als geduldiger, freundlicher Lehrer. Trotz ihrer anfänglichen Unbeholfenheit hatte Maerad das sonderbare Gefühl, als regte sich in ihren Fingern eine uralte Erinnerung - als folgten sie Bewegungen, die ihr vertraut waren, die sie lediglich lange Zeit nicht ausgeführt hatte. Dernhil zeigte sich erstaunt darüber, wie rasch sie erst Buchstaben, dann Worte zu formen begann. Gegen Ende des Unterrichts hatte sie bereits ihren ersten Satz geschrieben.
»Genug für heute«, sagte Dernhil, woraufhin Maerad ein leises Stöhnen der Enttäuschung von sich gab. Belustigt musterte er sie. »Wenn nur all meine Schüler so eifrig wären«, meinte er. »Für deinen ersten Unterricht hast du dich außerordentlich geschickt angestellt, Maerad, aber eine Pause wird dir guttun. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass du so weit kommst.«
»Aber es ist so lustig!«, rief sie aus. »Ich habe mich immer gefragt, ob so etwas möglich ist: Ich meine, Dinge aufzuschreiben, damit man sie nicht vergisst. Gilman hatte Listen seiner Schafe, Kühe, Hühner und anderen Sachen, er hat sie einfach mit Linien und Bildern auf etwas markiert, das aus Rinde gemacht wurde, damit er wusste, wenn etwas davon gestohlen oder gegessen wurde. Vielleicht hat man mir in Pellinor ein wenig Schreiben beigebracht, ich kann mich nicht erinnern… Ich habe so vieles vergessen. Aber das ist erstaunlich! Und die Schrift ist so wunderschön. Naja«, fügte sie mit einem zweifelnden Blick auf die eigene Schrift hinzu, »sie ist wunderschön, wenn Ihr sie schreibt.«
»Das ist bloß Übungssache«, gab Dernhil zurück. »Nach einem Jahr hier würdest du schreiben wie ein alter Bibliothekar.« Abermals musterte er Maerad, doch diesmal sprach aus seinem Blick ein Hauch von Sorge, ein leichtes Zögern. »Was geht bloß in Cadvans Kopf vor sich? Der Mann ist mir ein Rätsel, obwohl er bestimmt seine Gründe hat. Wie auch immer, du hast heute Nachmittag noch anderen Unterricht. Cadvan hat einen Stundenplan für dich zusammengestellt, aber da du ihn noch nicht lesen kannst, zeige ich dir, wohin du gehen musst.«
Er kramte durch seine Regale, bis er ein erlesenes, ledergebundenes kleines Buch fand, das er Maerad reichte. »Das ist für heute Abend«, erklärte er. »Ich habe dir ja gezeigt, wie man die Buchstaben ausspricht. Da drin sind ein paar einfache Gedichte. Ich möchte, dass du bis morgen versuchst, sie zu lesen, wenn du nicht allzu müde bist. Aber nur eines oder zwei, nicht die ganze Sammlung.«
Maerad nahm das Buch entgegen, als handle es sich um einen geheiligten Gegenstand, und schlug es behutsam auf. Die Seiten bestanden aus schwerem, trockenem Pergament und verursachten ein ganz leises Rascheln. Auf einer Seite mit einem lebhaften Bild von Bienen rings um einen Bienenstock hielt sie inne. Im Hintergrund war eine Landschaft aus Flüssen und Tälern zu sehen, in der Ferne Berge mit schneegekrönten Gipfeln. Den Rand der Seite bildete ein breiter Rahmen aus Blattgold, über den der Maler scheinbar willkürlich einige Wildblumen verteilt hatte: Gänseblümchen, Nelken und andere, die Maerad nicht erkannte. In jeder Ecke befand sich ein winziges Bild, das umso mehr Einzelheiten preisgab, je länger sie es betrachtete: eines zeigte einen Mann, der ein Hackbrett spielte, ein anderes einen Bären, der unter einem Baum schlief, das dritte eine Frau, die etwas betrachtete, das wie eine Kristallkugel aussah, und unten rechts saßen zwei Leute an einem Tisch und tranken einen goldene Flüssigkeit aus einem Glas. Auf der gegenüberliegenden Seite, vom selben Rahmen umgeben, stand in schwarzen und roten Buchstaben das Gedicht. Maerad entzifferte den Titel: Der Bienenstock.
Sprachlos schaute Maerad mit leuchtenden Augen zu Dernhil auf, der durch ihre unverhohlene Freude regelrecht verlegen wirkte, was er
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