Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
kalt ums Herz. Das Leben hatte sie gelehrt, dass männliche Begierde nur Gewalt verhieß, und eine tiefsitzende, urtümliche Furcht erstickte jede andere Erwiderung im Keim. Von plötzlicher Panik erfasst rappelte sie sich mit rasendem Herzen auf die Beine.
»Ich sollte gehen«, stieß sie hervor. »Morgen muss ich früh aufstehen.« »Ja«, sagte Dernhil. Seufzend erhob auch er sich. »Tja, dann bis morgen.« »Ja«, gab Maerad zurück.
Abermals sah sie Dernhil an, doch jener beunruhigende Gesichtsausdruck war verschwunden. Sie ergriff seine ihr entgegengestreckte Hand, neigte den Kopf und zog sich rasch zurück.
Am sechsten Unterrichtstag teilte Dernhil ihr mit, dass am folgenden Tag ein Fest zum Ende des Konklaves stattfinde und dass sie deshalb nicht zu erscheinen brauche. Mittlerweile war sie in der Lage, den Gedichtband stockend durchzulesen, und Dernhil schenkte ihn ihr. »Komm, um dich zu verabschieden, bevor du abreist«, sagte er zu ihr.
»Das werde ich«, gelobte Maerad und nahm das Buch an sich. »Und danke, vielen Dank.« All die Dinge, die sie eigentlich sagen wollte -dass sich unter Dernhils einfühlsamem Geleit eine schillernde neue Welt für sie aufgetan hatte, die sie mit Freude und Aufregung erfüllte -, stauten sich in ihrer Kehle und drohten sie zu ersticken.
Dernhil räusperte sich. »Es war mir eine Freude, dich zu unterrichten«, sagte er. »Cadvan kann auf dem aufbauen, was du bereits gelernt hast. Und du kannst dir auch selbst weiterhelfen, indem du Lesen übst.« Er setzte ab. »Es gibt noch so vieles, was ich dir gern zeigen würde. All die großartigen Texte aus Annar und den Sieben Königreichen, die Geschichten und die Lieder, die zusammen das Weistum ergeben. Und das ist erst der Anfang. Es kommt mir wie ein Verbrechen vor, dir all das nicht beizubringen.« Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Mit deiner Gelehrigkeit und deinem Eifer wärst du eine herausragende Schülerin. Es brauchte nur ein wenig Zeit.« »Ich vermute, es sollte wohl nicht sein«, meinte Maerad. »Und wir können unseren Pfad nicht immer selbst wählen.«
Dernhil wirkte ein wenig bestürzt. »Nein, da hast du wohl recht«, gab er zurück. Ein kurzes, betretenes Schweigen breitete sich aus. »Naja, vergiss nicht vorbeizuschauen, bevor du gehst.« Damit setzte er sich unvermittelt an den Schreibtisch, und Maerad erkannte, dass sie entlassen war.
Indik zeigte sich barscher. »Wenigstens kannst du dein Schwert halten«, meinte er. »Das ist wenigstens etwas. Mehr kann ich nicht sagen. Du musst einfach üben und hoffen, dass du Glück hast.«
Maerad starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an. Ihr war nicht danach zumute, ihm zu danken, obwohl sie das Gefühl hatte, dass sie es tun sollte. Indik hüstelte, dass es fast wie ein Lachen klang.
»Nichtsdestotrotz, ein wackeres Herz kann auch siegen, wenn es an Können mangelt«, sagte er. »Gib mir mal dein Schwert.« Sie reichte es ihm. »Wie hast du es getauft? Irigan? Ein guter Name …« Er zog es und betrachtete es eingehend. »Eine feine Waffe.« Er hauchte auf die Klinge und sprach mit leiser Stimme, sodass Maerad die Worte nicht zu hören vermochte. Dann steckte er das Schwert wieder in die Scheide und gab es Maerad zurück.
»Ein Zauber, der zur Genauigkeit beiträgt und Bruch oder Schaden mindert«, erklärte er. »Der Bann hat Bestand, solange die Klinge hält. Das könnte helfen.« Überrascht verspürte Maerad einen plötzlichen Anflug von Dankbarkeit. Sie schaute in Indiks Augen auf und erkannte darin zum ersten Mal eine unerwartete Güte. Zu ihrer beider Erstaunen warf sie Indik die Arme um den Hals und küsste ihn auf die vernarbte Wange.
»Danke, dass Ihr Euch mit mir herumgeplagt habt«, sagte sie. »Ich will mein Bestes tun, um Euch keine Schande zu bereiten.«
»Du kannst nicht mehr tun als dein Bestes«, gab er schroff zurück. »Und jetzt fort mit dir!«
Auf der Straße der Erschaffer lief sie Cadvan über den Weg. Er wirkte erschöpft, dennoch lächelte er, als er sie sah. »Sei gegrüßt, junge Kriegermaid!«, rief er. Maerad hatte ganz vergessen, dass sie noch ihr Kettenhemd trug, und sah unwillkürlich an sich hinab. »Nennt mich einfach Indiks Kummer«, gab sie zurück. »Obwohl er mir zumindest zugestanden hat, dass ich im Fall eines Angriffs das Schwert ziehen darf, statt einfach wegzurennen.«
»Dann hast du mit fliegenden Fahnen bestanden«, erwiderte Cadvan lachend. »Ich habe bereits mit Dernhil gesprochen; er wünscht sich
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