Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
wenngleich sie unter ihrem Arger spürte, dass seine Strenge nicht persönlich gemeint war und in gewisser Weise Respekt gebot. Jedenfalls stärkte der Unterricht ihre Entschlossenheit, die Schwertkunst zu erlernen, und sei es nur, um jenes spöttische Lächeln auszulöschen, das auf Indiks Antlitz auftauchte, wann immer ihr ein Fehler unterlief. »Das war jetzt deine Kehle, junge Dame«, pflegte er voll Genugtuung zu sagen. »Ebenso gut könntest du dich hinlegen und mir den Hals entgegenstrecken, so viel war diese Verteidigung jetzt wert.« Und Maerad, die unter ihrem Helm schwitzte, bleckte daraufhin jedes Mal die Zähne und verfluchte ihn leise, während sie wieder in Gefechtsstellung ging. »Glaub nicht, ich hätte das nicht gehört!«, mahnte Indik sie dann stets, ohne sich umzudrehen. »Flüche helfen dir auch nicht weiter, wenn du nicht mit dem Schwert umgehen kannst. So, und jetzt von vorn!«
Ihre Beziehung zu Dernhil entwickelte sich gänzlich anders und vertiefte sich zu einer Freundschaft. Am Ende des Unterrichts am vierten Vormittag wischte Dernhil sich die Haare aus den Augen und erkundigte sich, ob sie an jenem Abend beschäftigt sei. »Nein«, antwortete sie. An diesem Tag sollte sie abends in der Halle speisen. »Würdest du dann mit mir zu Abend essen?«, fragte er. »Ich könnte dir einige der Bücher zeigen, von denen ich dir erzählt habe …«
»Nur allzu gern!«, rief Maerad herzlich aus. Ihr graute davor, in der Halle zu essen; mit Menschenmengen hatte sie immer noch ihre liebe Not.
Nach dem heillosen Durcheinander in seinen Arbeitsräumen erwiesen sich Dernhils Gemächer als überraschend ordentlich. Vom Stil her entsprachen sie im Wesentlichen den Räumen in Silvias und Malgorns Haus - erlesen eingerichtet mit gemalten Verzierungen an warmen gelben Wänden. Das Esszimmer füllten eigenartige Gegenstände, die er auf seinen Reisen gesammelt hatte: kunstfertige Elfenbeinschnitzereien aus Suderain, Seidenbehänge von den Webern von Thorold, kleine Alabasterstatuen von unbekannten Kunsthandwerkern aus Annaren, eine riesige Kristallkugel, seltsam verschlungene Metalllampen… Die Wände waren natürlich von Büchern gesäumt. Er tischte ein schlichtes, aber köstliches Mahl auf: gegrilltes Gewürzfleisch mit zartem Frühlingsgemüse, dazu Käse, Nüsse und Wein. Nach dem Essen ließen sie sich auf gemütlichen gepolsterten Stühlen vor dem Feuer nieder und nippten Wein. Dernhil holte Buch um Buch herbei, wies auf Einzelheiten der Schreibkunst und Ausmalung hin, las ihr Gedichte vor, und die beiden unterhielten sich gesellig über alle möglichen Dinge. Maerad erkundigte sich nach seinem Wettstreit gegen Cadvan. Dernhil warf den Kopf zurück und lachte.
»Du hättest Cadvan damals sehen sollen!«, meinte er verschmitzt.
»Das war vor… nun, als er noch jünger war. Er war gutaussehend, besaß Ausstrahlung und war bereits ein Magier von großer Macht -alle meinten, er würde mit Sicherheit eines Tages Oberster Barde werden, vielleicht sogar Oberster Barde von Norloch -, und er war auch kein schlechter Dichter.« »Aber nicht so gut wie Ihr.« »Nein«, bestätigte Dernhil und warf ihr einen belustigten Blick zu. In seiner Aussage schwang keine Eitelkeit mit. »Und Cadvan konnte es nicht ertragen, Zweiter zu sein. Natürlich habe ich gewonnen. Er war außer sich vor Zorn.«
Maerad war nicht entgangen, dass Dernhil abgewandelt hatte, was er ursprünglich sagen wollte. »Was wurde aus Cadvan?«, fragte sie neugierig. »Ich meine, warum ist er nicht Oberster Barde geworden?«
Dernhils Züge verfinsterten sich, aber nicht vor Missbilligung, sondern eher vor Traurigkeit. »Ich glaube, das sollte Cadvan dir selber sagen«, meinte er nach einer Weile. »Was er zweifellos eines Tages tun wird. Er ist in der Tat ein großer Barde geworden. Nur wenige kommen ihm gleich. Aber das Leben entwickelt sich nur selten so, wie man es erwartet, wenn man jung und voller Hoffnung ist.« Eine kurze Stille entstand, dann drehte er sich Maerad zu. »Verzeih mir, wenn ich eine so persönliche Frage stelle, aber du und Cadvan … seid ihr ein Paar?«
Maerad errötete und dachte sofort an die Gerüchte, von denen Cadvan gesprochen hatte. »Nein«, murmelte sie. »Nein, nichts dergleichen.« Sie schaute auf und ertappte Dernhil bei einem unverhohlenen Blick. In seinen Augen stand eine unausgesprochene Einladung geschrieben, ein zärtliches Flehen, etwas, das über Bewunderung hinausging. Maerad wurde es plötzlich
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