Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
sich hin und schien in einer anderen Wirklichkeit gefangen; sie lächelte und nickte, als spräche sie mit jemandem, der nicht da war. Maerad dachte bei sich, dass sie mehr als nur halb verrückt war, dennoch hatte sie etwas an sich, das sich Mitgefühl verbat. Sie bemitleidete sich nicht selbst.
Maerads Kraft kehrte rasch zurück. Abgesehen von ihrem Namen hatte sie Mirka nicht gesagt, wer sie wirklich war oder wie ihre Geschichte lautete, und Mirka fragte nicht danach. Sie nahm Maerad an wie einen verletzten Vogel, den ihr der Himmel gesandt hatte, damit sie ihn pflegte, und der sich eines Tages erholen und fortfliegen würde. Maerad brauchte nicht mehr so viel Schlaf, und als das Wetter schön blieb, wusch sie ihre Kleider im Bach. Sie schrubbte sie mit etwas harter Seife, die Mirka ihr gab, danach badete sie kurz in dem eisigen Gewässer. Maerad war völlig verdreckt gewesen, verkrustet vor Schweiß und Blut, und es fühlte sich herrlich erleichternd an, wieder sauber zu sein. Nach dem ersten Schrecken, der ihre Zähne klappern ließ, stellte sie sich unter einen winzigen Wasserfall und wusch sich die Haare. Als sie aus dem Wasser trat, fühlte ihre Haut sich an, als brannte sie vor Leben.
Doch je mehr Maerads Körper sich erholte, umso schneidender spürte sie ihren Kummer. Mehr denn je zuvor vermisste sie ihren Bruder; sie sehnte sich nach der Nähe der Zusammengehörigkeit, nach dem wortlosen Verständnis, das sie und Hem allzu kurze Zeit genossen hatten. Mittlerweile glaubte sie, dass Hem nicht tot war, fürchtete jedoch, er könnte gefangen genommen worden sein. Oder vielleicht stand Turbansk sogar noch. Sie wusste es nicht. Diese Blindheit empfand sie als schlimmer als alles andere.
Manchmal vermeinte sie, seinen rastlosen, knochigen Körper zu halten, wenn sie schlief, wie sie es so oft getan hatte, als sie gemeinsam gereist waren und ihn Albträume geplagt hatten. Wenn sie erwachte, musste sie überrascht feststellen, dass ihre Arme leer waren. Bei solchen Gelegenheiten spürte sie seine Abwesenheit wie einen körperlichen Schmerz; sie vermisste ihn mit Haut und Seele, bis hinab ins Mark ihrer Knochen.
Am meisten aber peinigte Maerad Reue ob ihres Bruchs mit Cadvan. Immer und immer wieder spielten sich in ihren Gedanken ihre Wortwechsel ab, und sie fragte sich, was sich anders entwickelt hätte, wäre sie weniger wütend oder Cadvan weniger streng gewesen; vielleicht hätten sie, wenn ihre Geister sich zu vereinen vermocht hätten - und warum konnten sie es eigentlich nicht, warum hatte Cadvan den Versuch als Angriff empfunden -, die Frostkreaturen zerstören können. Den letzten Streit betrachtete sie als ihr alleiniges Versagen.
Auch Ilars Tod beschäftigte Maerad. Sie konnte nicht länger vor sich selbst verbergen, dass sie sehr wohl beabsichtigt hatte, die Bardin zu töten; und sie fragte sich, was Cadvan mit der neuen Finsternis gemeint hatte, die er in ihr gespürt hatte. Sie wusste, dass sich etwas in ihr veränderte, doch sie konnte es nicht so einfach erfassen: Sie erlitt es einfach. Es war, als gäbe es unterschwellig zwei Maerads, die ihr beide fremd waren - und schlimmer noch, sie befanden sich im Krieg miteinander. Die einzige Möglichkeit, diese innere Zerrissenheit zu bewältigen, schien ihr, daran zu denken, ihre Reise fortzusetzen. Sie ging die spärlichen Wissensbrocken durch, die sie über das Baumlied besaß: den Zukunftstraum, der ihr aufgetragen hatte, nach Norden zu schauen; die Vorstellung, dass eine Verbindung zwischen dem Geteilten Lied und dem Baumlied bestand; dass jenes Baumlied auf das Wissen der Elidhu zurückging; dass ein Gift in den Wurzeln der Hohen Sprache etwas mit dem Geheimnis des Baumlieds zu tun hatte. Nelacs Überzeugung, dass sie und Cadvan dessen Rätsel lösen mussten, erfüllte sie mit ein wenig Zuversicht. Gewiss hätte sie ein so weiser Barde nicht auf eine unsinnige Reise entsandt. Ihre Suche hatte an ein tieferes Wissen gerührt, vergleichbar jener instinktiven Erkenntnis, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, dass Hem und sie zusammengehörten. Maerad musste diesem tieferen Wissen so vertrauen, wie Cadvan es getan hatte, und sich damit zufrieden geben, nicht alles zu verstehen. Im nüchternen Licht der Vernunft besaß sie äußerst wenig, wonach sie sich richten konnte: Träume und Mutmaßungen, die selbst Rätsel enthielten. Vielleicht hatte Cadvan eine klarere Vorstellung davon besessen, was sie tun müssten, sobald sie den Osidh Annova
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