Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
ging er die Ereignisse durch, die zu Zelikas Gefangennahme geführt hatten, und fragte sich, ob er irgendetwas hätte tun können, um sie zu verhindern. Mittlerweile hatte er begriffen, dass der Hauptgrund, weshalb Zelika eingewilligt hatte mitzukommen, darin bestand, dass sie gehofft hatte herauszufinden, was aus ihren Brüdern und Schwestern geworden war; sie hatte vermutet, dass sie nicht getötet, sondern gefangen genommen worden waren. Unweigerlich fühlte er sich schuldig: Er hätte es ahnen müssen. Nun, da er darüber nachdachte, schien es ihm offensichtlich; und dennoch war ihm die Möglichkeit, dass sie eines ihrer Geschwister antreffen könnte, nie in den Sinn gekommen. Natürlich hatte sie alle Selbstbeherrschung verloren, als sie ihren Bruder erblickt hatte. Nutzlos verfluchte Hem jenen grausamen Zufall.
Am schlimmsten war, dass sie nur seinetwegen überhaupt mitgekommen war. Allein Hems Zureden hatte sie bewogen einzuwilligen, für Hared zu arbeiten. Wäre Hem nicht gewesen, wäre nichts von alledem geschehen.
Er vertrieb sein Elend, indem er mit geballter Aufmerksamkeit das Lager beobachtete und sich sorgfältig alles einprägte, was er sah. Zu seiner Überraschung erfolgten keine weiteren Ausfälle in den Wald. Ebenso wenig begab sich jemand auf die Suche nach ihm, und auch auf der Straße rührte sich nichts. Hem empfand dies als ermutigend. Hätte man durch Zelika etwas Bedeutsames erfahren, wäre gewiss eine Botschaft nach Den Raven geschickt worden.
Den ganzen Tag lang sah er zu, wie die kleinen Gestalten ausgebildet wurden, vom Aufgehen der fahlen Sonne am Morgen bis zum letzten Tageslicht. Eingehend achtete er darauf, wassie taten. Er gelangte zu dem Schluss, dass seine ursprüngliche Schätzung von etwa drei Reihen der Kinder - knapp unter eintausend - ziemlich zutreffend war. Anschließend entsandte er Irc mit seinen jüngsten Erkenntnissen erneut zu Hared und ließ dem Barden ausrichten, dass er noch bleiben würde. Diesmal kehrte Irc ein wenig beunruhigt und mit dem unmissverständlichen Befehl zurück, dass Hem zu Hared zurückkehren sollte. Hem nickte, lächelte verkniffen und begann, seinen Tarnbann vorzubereiten. Eine Weile beobachtete Irc ihn voll stummem Entsetzen, dann fragte er ihn, was er vorhatte.
Ich gehe ins Lager, antwortete Hem. Du wirst es Hared mitteilen müssen. Du bist genauso verrückt wie das Mädchen, zischte Irc mit plötzlicher Wut. Du wirst nie zurückkommen. Nicht einmal Vögel überfliegen diesen Ort.
Hem schwieg kurz und musterte Irc. Ich brauche deine Hilfe, Irc, sagte er schließlich. Du musst Hared wissen lassen, was ich mache, und dann musst du in der Nähe des Lagers bleiben, damit ich dir Botschaften zukommen lassen kann. Wie, finde ich schon noch heraus, es muss einen Weggeben, wahrscheinlich über Gedankenberührung. Allein”? Du willst, dass ich auf mich alleine gestellt bleibe? Erschrocken flatterte Irc mit den Flügeln.
Ich werde auch auf mich alleine gestellt sein. Aber ich muss Zelika finden und befreien. Du bist wahnsinnig.
Vielleicht. Trotzdem muss ich es tun. Ich kann sie nicht hierlassen. Hem sah Irc an; die Krähe hatte den Kopf gedreht, um ihn mit einem starrenden gelben Auge anzublicken. Er spürte Ircs Besorgnis. Es tut mir leid, Irc. Mehr als alles andere möchte ich zurückgehen, aber zuerst muss ich das erledigen. Hilf mir.
Irc wandte Hem den Rücken zu und putzte sich das Gefieder.
Bitte, Irc.
Der Vogel schaute auf und kam dicht zu dem Jungen. Hem streichelte Ircs glatte kühle Federn und bedauerte, dass er nicht mehr weiß war: die gescheckte Färbung mochte praktisch sein, aber sie verdarb Ircs übliche Schönheit.
Ich werde dir helfen, sagte Irc. Ich verstehe, dass du nicht ohne deine Freundin aufbrechen willst. Und ich will dich nicht verlassen.
Plötzlich standen Hem Tränen in den Augen. Danke, erwiderte er. Er hob Irc auf, setzte ihn sich auf den Schoß und kraulte ihm liebevoll den Hals.
Ich gehe morgen in das Lager. Wie ich das anstelle, habe ich mir schon ausgedacht, aber danach muss ich abwarten, was geschieht. Bleib so nah wie möglich beim Lager, damit ich dich erreichen kann, wenn es sein muss.
Irc schwieg eine Weile, die Augen vor Wonne halb geschlossen, während Hemseinen Hals streichelte.
Was ist, wenn sie dich totmachen ?, fragte er schließlich.
Dann kehrst du zu Hared zurück, erwiderte Hem. Aber sie werden mich nicht totmachen.
Danach wandte er sich wieder seinem Tarnbann zu. Er hatte Recht gehabt:
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