Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
und vielleicht vermuten würde, dass er ein Spitzel war. Er war nicht sicher, wie seine Tarnung sich unter eingehender Prüfung bewähren würde. Wie gut konnte er sich abschirmen? Würde er einem Seelenblick unterzogen werden? Das stellte seine einzige echte Angst dar: Nicht einmal Barden vermochten, sich gegen diese grausame Untersuchung zu schützen.
Er hatte lange über diese Frage nachgedacht und wusste, dass er dabei auf sein Glück angewiesen war. Hem hoffte, dass es zu mühevoll wäre, ihn einem Seelenblick zu unterziehen. Barden griffen nur sehr zögerlich darauf zurück, teils, weil es einen tief reichenden Eingriff in den Geist eines anderen darstellte, aber auch, weil es ein äußerst schwieriger und erschöpfender Vorgang war. Hem war überzeugt davon, dass es für Untote nicht anders sein würde, zumal sie trotz allem selbst eine Art von Barden verkörperten; vielleicht würde es für sie sogar noch schlimmer sein, weil sie Seelenblicke ohne Einwilligung vornahmen und den Widerstand des Opfers überwinden mussten. Ob Untote tödlicher Müdigkeit erliegen konnten, auch wenn sie auf übliche Weise nicht starben? Würden sie ein hungriges, abgehärmtes Kind eines Seelenblicks für würdig erachten? Unruhig kaute er an seinen Fingernägeln und kämpfte gegen seine Anspannung an.
Er war Bared. Er hatte sich verlaufen, war verängstigt und erschöpft. Seine Familie war tot.
Hem vertrieb aus seinen Gedanken alles außer dem Bedürfnis nach etwas zu essen. Sein Mund hing schlaff offen, und er begann, leicht zu sabbern.
Mittlerweile war die Frau bereits eine ganze Weile weg.
Schließlich hörte Hem zurückkehrende Schritte. Noch bevor die Tür sich öffnete, wusste er, dass die Frau von einem Untoten begleitet wurde. Er kämpfte gegen sein instinktives Grauen an. Bared würde nicht in der Lage sein, einen Untoten zu spüren. Was würde Bared denken? Er würde sich sofort fragen, ob er Abendessen bekommen würde. Hem schaute mit hungriger Hoffnung im Gesicht auf, und als er leere Hände sah, senkte er den Blick voll missmutiger Enttäuschung wieder. »Steh auf, wenn eine Meisterin den Raum betritt!«, fauchte die Frau.
Widerwillig gehorsam erhob sich Hem. Wo blieb sein Abendessen?
»Sag der Meisterin deinen Namen und erzähl ihr deine Geschichte.«
Unruhig leckte Hem sich über die Lippen. »Mein Name ist Bared«, sagte er, setzte ab und warf besorgte Blicke auf die beiden Gestalten vor ihm.
»Und wie bist du hierher gelangt?«
»Ich - ich weiß es nicht.«
Die Frau holte mit der Hand aus, um ihn erneut zu schlagen, woraufhin er geduckt zurückwich und drauflos zuplappern begann.
»Meine Leute sind alle tot, mein Papa, meine Mama - es war schrecklich, Feuer und tote Leute, Blut, all das Geschrei … Ich bin weggerannt. Ich bin gerannt und gerannt. Konnte niemanden finden. In der Dunkelheit lauern schlimme Dinge, und ich habe mich verlaufen und bin so hungrig …«
Krämpfe der Übelkeit zuckten durch seinen Magen; sie ähnelten durchaus jenem nagenden Hunger, den er als kleines Kind oft verspürt hatte. Zum ersten Mal sah er den Untoten richtig an; kurz verdoppelte sich seine Übelkeit, und kalter Schweiß brach ihm aus. Er verlagerte den Blick, sodass er die Gestalt nicht unmittelbar anblickte, und versuchte, aus dem Augenwinkel festzustellen, welche Form der Untote angenommen hatte; seine Bardenaugen durchschauten den Trugbann, der das lebendige Grauen seiner Fratze verbarg. Rot leuchtende Augen starrten aus einem untoten Schädel, über den sich straff unbehaarte Haut spannte. Hem wagte nicht, sich seine tief sitzende Abscheu anmerken zu lassen, zumal dies dem Eingeständnis gleichgekommen wäre, dass er ein Barde war. Er bezweifelte, dass der Untote ohne einen Trugbann zur Verschleierung seines wahren Aussehens vor ein verängstigtes Kind treten würde.
Zu seiner Erleichterung erhaschte Hem schließlich aus dem Augenwinkel einen Blick auf die geschönte Form des Untoten. Was er sah, ließ ihm vor Schreck den Atem stocken, während er sein Bewusstsein völlig auf seine Krämpfe bündelte. Der Untote erschien ihm als wunderschöne Frau in einem langen, roten Gewand. Das dunkle Haar wallte ihr offen auf den Rücken. Sie war groß, üppig und besaß ein herzliches, freundliches Gesicht.
»Du bekommst etwas zu essen, wenn du ein paar Fragen beantwortest«, sagte die erste Frau mit sanfterer Stimme. »Also, sag der netten Dame, woher du kommst.« Hem schaute auf und wappnete sich, um angesichts der
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