Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
gleich sparen können. Jeden Tag fürchtete er, er könnte sehen, wie sie zu einer der schrecklichen Bestrafungen nach draußen gebracht wurde; sollte das geschehen, wusste er nicht, was er tun würde. Zweifellos könnte er nicht einmal mit geheuchelter Gleichmütigkeit mit ansehen, wie Zelika gefoltert würde; es fiel ihm schon bei Kindern schwer genug, die er nicht kannte. Die Grausamkeiten in Sjug’hakar Im bescherten ihm völlig neue Albträume.
Bei seinen nächtlichen Erkundungsgängen nahm er das Blin-e Haus aus vorsichtiger Entfernung in Augenschein. Er versuchte, die Geister darin zu erspüren, und vermeinte, einen leichten Hauch von Zelikas Gegenwart wahrzunehmen, wenngleich gequält und fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Dennoch reichte es, um seine Entschlossenheit zu stärken, trotz der schreie, die manchmal herausdrangen, in die Hütte einzubrechen. Hem hatte sich nie an sie gewöhnt; jedes Mal, wenn er sie hörte, ließen sie ihm die Eingeweide zu Eis erstarren.
Der vor der Hütte angebrachte Wachbann war sehr stark, was ihn verwirrte. Wenn er Recht hatte, wurden im Blinden Haus nur Bluthunde eingesperrt, wofür auch ein weniger mächtiger Bann genügt hätte. Hem wagte sich nicht zu nahe hin, um sich nicht zu verraten; aber in den Nächten, wenn er das Lager durchstreifte, verbrachte er den Großteil der Zeit damit, den Wachbann, dessen Form und Aufbau behutsam abzutasten. Wie alle Wachbanne handelte es sich um aus Schatten und Luft gewobene und an einem bestimmten Ort verzurrte Hexerei. Diese erwies sich als besonders unangenehm: Hätte man sie berühren können, sie hätte sich kalt, frostig wie ein Grab angefühlt, zugleich aber auch stachelig, als wäre sie mit scharfen Wahrnehmungsdornen übersät, und schleimig wie ein verwesendes, totes Ding. Als Hem zum ersten Mal in eine Reichweite von zehn Spannen dazu geriet, befiel ihn unbändige Übelkeit.
Jener Wachbann war, wie Hem ein paar Nächte später entsetzt feststellte, nicht nur ein Alarm, sondern selbst eine Foltervorrichtung. Er pulsierte mit einer hexerischen Kraft, die in den Geist der Kinder in der Hütte eindrang, ihn vergiftete wie eine bösartige Spinne, mit Verzweiflung, Hass und Panik in einem Ausmaß, dass sie sich wie fortwährende körperliche Schmerzen anfühlten. Kein Wunder, dass derart grässliches Schreienund Gekreische aus dem Blinden Haus drang.
Hem war überzeugt davon, dass der Wachbann von der Spinne geschaffen und dort angebracht worden war. Vielleicht hatte der Untote so seinen Spitznamen erlangt. Wer immer sich im Blinden Haus aufhielt, litt jede Stunde jedes Tages unter der Hexerei des Banns. Niemand konnte das lange ertragen und überleben, dachte Hem, als er ihn abtastete. Durch seine Gedanken wirbelten Berechnungen darüber, wie lange Zelika dort drinnen eingesperrt sein musste. Dreizehn Tage.
Dreizehn Tage!
Er rang seine Übelkeit nieder und vertiefte sich in das Problem, wie er den Wachbann außer Kraft setzen sollte. An diesem konnte er sich nicht einfach vorbeischleichen, das war unmöglich. Auf dem Weg durch die Nazar-Ebenen hatte er Saliman geholfen, solche Vorrichtungen zu entschärfen, weshalb er mit der Aufgabe grundsätzlich vertraut war. Allerdings war der Wachbann der Spinne außergewöhnlich vielschichtig und würde überaus schwierig zu verlegen sein. Es würde beträchtlicher Magie bedürfen, wofür er wiederum einen sehr starken Schild brauchte, um sie zu verbergen; Hem war keineswegs sicher, ob er die Macht besaß, einen solchen Schild anzufertigen. Obendrein erstaunten ihn einige der in den Bann eingewobenen Hexereien, entzogen sich seinem Verständnis und froren seine Gedanken ein. Geduldig stählte er sich und begann erneut, obwohl er bald so müde war, dass er kaum noch stehen konnte. Was immer er empfand, es würde nichts im Vergleich zu dem sein, was Zelika durchmachte. Trotz allem erlag Hem dem Reiz des Rätsels, ging völlig in dessen Lösung auf und vergaß beinah, wo er sich befand. Schließlich schaute er auf und stellte erschrocken fest, dass der Großteil der Nacht verstrichen war und die Sterne demnächst verblassen würden. Er hatte eine gefährlich lange Zeit verweilt; und er fühlte sich so erschöpft, dass er nicht wusste, wie er die Übungen des Tages überstehen sollte. Dafür glaubte er zu wissen, wie er den Wachbann zerstören und ins Blinde Haus gelangen konnte. Ganz gleich, welche Dringlichkeit er verspürte, in der folgenden Nacht fühlte Hem sich einfach zu
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