Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
fürchtete sich weit mehr als zu dem Zeitpunkt, zu dem er beschlossen hatte, Sjug’hakar Im zu betreten. Damals hatte er nüchtern die Erfolgsaussichten abgewogen und beschlossen, dass sie gut genug standen, um das Wagnis einzugehen. Diesmal fand er, dass sie denkbar gering aussahen. Ich will nicht sterben, dachte er bei sich. Und ich will nicht alleine an diesem entsetzlichen Ort sterben. Ich will Maerad wiedersehen, und Saliman. Ich will mit meinen Freunden in einem sonnigen Garten sitzen, essen und trinken. Hem dachte zurück an Salimans Haus in Turbansk, an das zum Garten hin offene Esszimmer, an die kühlen Steinplatten neben dem Teich, den über die Mauer treibenden Duft von Jasmin, die Oleander und Rosen, die unter den Obstbäumen wuchsen. Er versuchte, sich den Geschmack von Sorons Kümmelkuchen ins Gedächtnis zu rufen, und stellte fest, dass er vergessen hatte, wie gutes Essen schmeckte - nicht die geringste Spur davon war noch auf seiner Zunge vorhanden. Seine Erinnerungen schienen ausgebleicht, jeglicher Farben beraubt und sehr weit entfernt. Dabei, dachte er traurig, waren Erinnerungen alles, was ihm von Salimans Haus blieben, jenem heimeligen, hellen Ort, an dem er für zu kurze Zeit glücklich gewesen war. Jenes Haus lag in Trüm- mern, von einem Erdbeben ausgelöscht und von der Schwarzen Armee überrannt. Hem dachte daran zurück, wie er Zelika zum ersten Mal begegnet war, als sie auf dem Marktplatz mit ihm zusammengeprallt war, dreckig und halb wahnsinnig vor Kummer und dem Verlangen nach Rache. Ihm gingen all die Gelegenheiten durch den Kopf, bei denen sie ihn in Verlegenheit gebracht, ihn enttäuscht oder wütend gemacht hatte: ihr verrückter Wunsch, mit Har-Ytan zu kämpfen, als Turbansk unterging, ihre Wutausbrüche gegenüber Saliman, ihr strenger Unterricht in Suderain. Die Bilder stiegen willkürlich in seinem Geist auf: ihr Zorn und sein Vergnügen, als Irc ihre Sandale besudelt hatte; die ernste Falte auf ihrer Stirn, wenn sie die Gedanken bündelte; ihr sanfter Gesichtsausdruck, als sie die kleinen Kinder in Nal-Ak-Burat aufgehoben hatte. Er erinnerte sich daran, wie sie ausgesehen hatte, als sie an jenem ersten Tag aus dem Badezimmer gekommen war: ihre schwarzen Locken glänzend und nass, unter dem Auge jene ent- zündete Verletzung, die sie auf seltsame Weise noch hübscher gemacht hatte, als sie ohnehin war.
Sollten wir je erwachsen werden, dachte Hem, dann möchte ich Zelika heiraten. Der Einfall ereilte ihn so überraschend, dass er lächeln musste. Höchstwahrscheinlich würde Zelika ihn nicht zum Mann haben wollen, und sollten sie sich doch vermählen, würden sie sich ständig zanken. Sie war wild, unberechenbar und manchmal unerträglich; dennoch liebte er sie. Zelika war das schönste Mädchen, dem er je begegnet war. Eines Tages würde er sie auf den Mund küssen, selbst wenn er sich dafür vermutlich eine Ohrfeige einhandelte. Eines Tages würde er ihr gestehen, dass er sie liebte.
Aber zuerst musste er sie aus dem Blinden Haus retten. Er konnte es sich nicht leisten, Angst zu haben.
Das Atmen rings um ihn ging in einen gleichmäßigen Takt über, und Hem begann mit seinen Vorbereitungen. Zuerst wollte er mit Irc sprechen, für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte. Er fertigte einen magischen Schild an und rief Irc. Sogleich antwortete er mit vor Besorgnis knisternder Stimme.
Es tut mir leid, dass ich letzte Nacht nicht mit dir sprechen konnte, sagte Hem. Ich war so müde. Er erzählte Irc, was er über das Blinde Haus herausgefunden hatte und was er zu tun gedachte.
Als er fertig war, schwieg Irc eine Weile. Ich halte das für keine gute Idee, meinteer schließlich.
Das mag sein, gab Hem zurück. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss Zelika da rausholen.
Womöglich ist sie an einem anderen Ort, warf Irc ein. Bist du ganz sicher, dass sie sie in diesem Käfig festhalten?
Ich bin sicher, bestätigte Hem; dennoch konnte er plötzlich aufkeimende Zweifel nicht verbergen. Irc hatte Recht: Sie konnte sich durchaus in einem anderen Block befinden. Was er gespürt hatte, war zu verschwommen gewesen, um sich völlig sicher zu sein. Gut, sie könnte vielleicht woanders sein, aber am wahrscheinlichsten ist sie im Blinden Haus. Ich hoffe, du hast Recht, sagte Irc. Eine zweite Gelegenheit wird es nicht geben. Sie werden nach dir suchen.
Ircs Zweifel brachten Hem aus der Fassung. Ich muss das tun, beharrte er. Ich bin sicher, dass sie dort ist.
Ich hoffe, du hast Recht,
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